Ich war Hitlerjunge Salomon
Abend des Jahres 1933 ein – in der
Morgendämmerung des »Tausendjährigen Reiches« –. SA-
Männer hatten in lange Farbschlieren ziehenden Buchstaben
»Kauft nicht bei Juden!« auf die Scheiben geschmiert. Von da
an blieb unser Geschäft für immer geschlossen. Nach und
nach verlegten wir das Lager in unsere Privatwohnung. Bei
Einbruch der Nacht stahlen sich treue und mutige Kunden
zu uns, die Lederschuhe und Schnürsenkel auch jetzt noch
von uns kaufen wollten. Nun waren sieben Jahre verstrichen.
Jahre des Leids und des Unglücks. Und ich stand da, fas-
sungslos und desorientiert, von der Vergangenheit träumend,
enttäuscht von dieser Welt.
»Wach auf, komm zu dir, denk’ an die Gegenwart!« mahnte
eine innere Stimme. Ich wachte wieder auf. Die Geschäfte
waren geschlossen. Die meisten Leute befanden sich im Sonn-
tagsgottesdienst. Früher schlich ich mich gerne in die Kirche,
um den von der Orgel gespielten und den Chören gesungenen
Chorälen zu lauschen. Ich setzte meinen Weg fort und kam
zum Marktplatz, wo Sonntagsstimmung herrschte. Spinzigs
Geschäft quoll von Spielzeug über. Mein Schiff war nicht
dabei. Als ich mich nach links wandte, meinem ehemaligen
Schulhof zu, erfaßte mich Rührung. Tor und Klassenräume
blieben auch Sonntags und an schulfreien Tagen geöffnet. Ich
schaute mich suchend um, und da ich niemanden sah, gab
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ich meiner Lust nach und ging hinein. Der vertraute Geruch
nach Bohnerwachs, der Anblick der Bänke mit den Tinten-
fässern stimmten mich wehmütig. Ich setzte mich auf meinen
alten Platz. Hier hatte ich die unvergeßlichen, legendären
Geschichten von Herrn Philipps, meinem Lehrer, gehört. Er
hatte von wunderbaren Reisen auf verzauberten Sternen erzählt,
und unter seiner Leitung hatten wir den ewigen Singsang des
Alphabets skandiert.
In dieser Schulbank hatten aber auch eine ganz andere
Melodie und eine ganz andere Reise begonnen: der Totentanz
und die Flucht vor dem Todesengel. Eines Tages wurde ich
mitten aus dem Unterricht heraus zum Direktor befohlen. In
seinem Büro übergab er mir ein Schreiben an meine Eltern,
sagte mir, ich solle meine Sachen packen und nach Hause
gehen. Einfach so. »Nimm deine Mappe und verschwinde!«
Schluchzend ging ich und verstand nicht warum.
Von da an brach der Sturm los. Nichts war mehr sicher,
mein Leben nur noch das eines gehetzten Flüchtlings. Eine
Zukunft gab es nicht mehr, sondern nurmehr eine Gegenwart
voller Prüfungen und Erschütterungen. Ich wurde von der
Schule verwiesen, und mein Leben hieß von da an Flucht.
In der kleinen Schulbank sitzend, versuchte ich, diese Ver-
gangenheit zu vergessen. Ich war jetzt wieder das Kind von
einst. Doch jene Zeit war unwiederbringlich dahin.
Ich stand auf, wollte einen Blick auf mein Geburtshaus
Am Damm 1 werfen, in dem ich gelebt hatte. Ich war so
aufgeregt, daß ich eigentlich nach Braunschweig hätte zu-
rückfahren sol en. Von der Schule bis zu meinem Haus waren
es nur ein paar Minuten. Ich kannte jeden Stein und jede
Ecke in dieser Straße. Hier, genau hier, war ich eines Tages
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von einem Fahrrad angefahren worden. Aber ich war wieder
aufgestanden wie ein Großer und hatte weitergespielt. Und
hier, hier an dieser Hausmauer hatten wir immer Murmeln
gespielt …
Gedankenvoll ging ich weiter und stand plötzlich auf der
Straßenseite gegenüber meines Geburtshauses. Der Nachbar,
Herr Nachtway, schaute aus dem Fenster. Beinahe hätte ich
ihn gegrüßt. Doch ich drehte den Kopf weg, aus Angst wie-
dererkannt zu werden. Denn er kannte mich sehr gut, der Alte.
Er hatte mich mehr als einmal auf den Knien gehalten und
mir spannende Kindergeschichten erzählt. Und jetzt durfte
ich ihm nicht einmal einen guten Tag entbieten.
An einem der Fenster meines ehemaligen Hauses tauchte
das Gesicht einer jungen Frau auf. Sie konnte nicht ahnen,
daß der, der da auf der anderen Seite stand, einst in densel-
ben Zimmern glücklich gewesen war. Hier war ich auf die
Welt gekommen, hier hatte ich gelacht und geweint, war ich
krank und wieder gesund geworden. Nun war mir der Eintritt
verwehrt. Das große, grünliche Haus der Meiners stieß an
unser rotes Backsteinhaus und bildete mit ihm eine Straßen-
ecke. Auch hier hinein durfte ich keinen Fuß setzen, obwohl
ich damals die meiste Zeit mit den Kindern dieses Hauses
verbracht hatte. In der rechten Gebäudehälfte befanden sich
eine Bierstube und ein Versammlungssaal: der
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