Ich war Hitlerjunge Salomon
Keine Macht der Welt hätte mich in
diesem Augenblick zur Umkehr bewegen können.
Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her. Meine Augen
wanderten von den vorbeiziehenden Landschaften zu meinen
Zeitungen, auf die ich mich nicht mehr konzentrieren konnte.
Ich versuchte, etwas zu schlafen, aber meine Knie schlugen
immer schneller aneinander. Das monotone Rattern des Zuges,
die halblauten Unterhaltungen im Abteil und das unregelmä-
ßige Schlagen der Abteiltüren mischten sich. Draußen pfiff
die Luft am Zug vorbei. Plötzlich hörte ich von irgendwoher
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eine befehlende Stimme: »Halten Sie Ihre Papiere für die
Kontrol e bereit!« Licht flammte auf, und Jupp nahm Haltung
an. Der aus dem nördlichen Niedersachsen stammende Josef
Perjel war für die Kontrol e bereit. Die Schiebetür öffnete sich,
und zwei streng blickende Männer erschienen im Rahmen.
Sie trugen lange schwarze Wintermäntel und breitkrempige
Hüte und wiesen sich als Polizisten aus. Die Papiere meiner
Abteilnachbarn wurden genau geprüft und die Reisenden selbst
mit hartem Blick fixiert. Einer von ihnen wurde nach dem
Grund seiner Reise gefragt, ein anderer mußte seine Tasche
öffnen. Dann kam ich an die Reihe.
Ohne zu zögern, hielt ich ihnen meine Reisegenehmigung
und meinen Mitgliedsausweis der Hitlerjugend hin. Ich ver-
suchte, möglichst überzeugt zu wirken, wol te Verständnis für
die notwendige Sicherheitskontrolle zum Ausdruck bringen.
Die beiden erfahren wirkenden Beamten begnügten sich mit
einem kurzen Blick auf mich, gaben mir meine Ausweise mit
einem »Vielen Dank, Heil Hitler« zurück und schlossen die
Abteiltür hinter sich.
Ich atmete tief durch. Wieder hatte ich ein Hindernis über-
wunden. Die gefährlichen Minuten waren ohne Zwischen-
fall verstrichen. Sie hätten mich auch in ihren Gestapokeller
mitnehmen können, wenn sie die erstklassige Beute entdeckt
hätten, die ich darstellte. Man hätte ihnen auf die Schulter
geklopft und sie gewiß beglückwünscht, wenn sie einen als
Hitlerjungen verkleideten Juden gefangen hätten …
Wir überfuhren die Grenze. Die Städtenamen und die
Landschaften bewiesen, daß wir uns in Polen befanden. Wir
näherten uns Lodz.
Spät in der Nacht traf ich auf dem Kaliszki-Bahnhof in
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Lodz ein. Ich hatte von vornherein beschlossen, kein Hotel
aufzusuchen, um Risiken zu vermeiden. In Hotels mußte man
Meldezettel ausfül en. Ich wol te dort nicht mit den polnischen
Empfangsportiers in Berührung kommen, denn wer konnte besser
als sie jüdische Gesichter erkennen, sie geradezu »riechen«? Ich
zog es vor, auf Komfort und Gefahr gleichermaßen zu verzichten
und die Nacht lieber auf dem Bahnhof zu verbringen. Tag und
Nacht wimmelte es hier so von Menschen, daß es nicht auffiel,
wenn man sich nachts auf einer der breiten Holzbänke in den
Ecken der Wartehal en ausstreckte.
Ich nahm mir vor, jede Nacht die Bank zu wechseln, um
nicht aufzufallen. Ich wollte keine Vorsichtsmaßnahme außer
acht lassen, um ja nicht den deutschen Geheimdienstbeamten
und den polnischen Spitzeln in die Hände zu fallen, die sich
hier ständig herumtrieben.
Immerhin war ich zur Hälfte untadelig, ich trug eine Uni-
form und hatte echte Papiere. Die zweite Hälfte aber drohte,
wegen des ungewöhnlichen Verhaltens Argwohn zu erregen.
Ich konnte mich nicht zweiteilen, und wie aus einem Guß
zu sein, war auch nicht möglich. Also mußte ich ein Ganzes,
aber ein aus zwei Hälften bestehendes Ganzes bleiben.
Ich gab meinen Koffer in die Gepäckaufbewahrung und
behielt nur die allernotwendigsten Sachen. Ich streifte durch
den Bahnhof, den ich seit der Zeit, da ich ein »großer Junge«
geworden war, gut kannte. Kaliszki war ein riesiger Eisen-
bahnknotenpunkt. Zahllose Reisende strömten ständig aus
und ein. Ich irrte in diesem Bahnhof umher und erinnerte
mich an vieles. Früher hatte ich Lodz des öfteren über diesen
Bahnhof verlassen, zu einer Zeit, da die Sonne für mich noch
schien – weit vor dem Holocaust.
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Einige Wochen, nachdem ich mit meiner Familie von Peine
nach Lodz übergesiedelt war, hatte mich ein naher Verwandter
väterlicherseits zu Ferien in einem der berühmtesten Kurorte in
Polen, nach Ciechocinek eingeladen. Dort gefiel es mir. Gärten
mit weißen und roten Blumen – den polnischen Nationalfarben,
den Symbolen der Unschuld und der Liebe – überzogen die
ganze Gegend. Ich verursachte meinem Verwandten al erdings
zunächst
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