Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
Vom Netzwerk:
Keine Macht der Welt hätte mich in
    diesem Augenblick zur Umkehr bewegen können.
    Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her. Meine Augen
    wanderten von den vorbeiziehenden Landschaften zu meinen
    Zeitungen, auf die ich mich nicht mehr konzentrieren konnte.
    Ich versuchte, etwas zu schlafen, aber meine Knie schlugen
    immer schneller aneinander. Das monotone Rattern des Zuges,
    die halblauten Unterhaltungen im Abteil und das unregelmä-
    ßige Schlagen der Abteiltüren mischten sich. Draußen pfiff
    die Luft am Zug vorbei. Plötzlich hörte ich von irgendwoher
    166
    eine befehlende Stimme: »Halten Sie Ihre Papiere für die
    Kontrol e bereit!« Licht flammte auf, und Jupp nahm Haltung
    an. Der aus dem nördlichen Niedersachsen stammende Josef
    Perjel war für die Kontrol e bereit. Die Schiebetür öffnete sich,
    und zwei streng blickende Männer erschienen im Rahmen.
    Sie trugen lange schwarze Wintermäntel und breitkrempige
    Hüte und wiesen sich als Polizisten aus. Die Papiere meiner
    Abteilnachbarn wurden genau geprüft und die Reisenden selbst
    mit hartem Blick fixiert. Einer von ihnen wurde nach dem
    Grund seiner Reise gefragt, ein anderer mußte seine Tasche
    öffnen. Dann kam ich an die Reihe.
    Ohne zu zögern, hielt ich ihnen meine Reisegenehmigung
    und meinen Mitgliedsausweis der Hitlerjugend hin. Ich ver-
    suchte, möglichst überzeugt zu wirken, wol te Verständnis für
    die notwendige Sicherheitskontrolle zum Ausdruck bringen.
    Die beiden erfahren wirkenden Beamten begnügten sich mit
    einem kurzen Blick auf mich, gaben mir meine Ausweise mit
    einem »Vielen Dank, Heil Hitler« zurück und schlossen die
    Abteiltür hinter sich.
    Ich atmete tief durch. Wieder hatte ich ein Hindernis über-
    wunden. Die gefährlichen Minuten waren ohne Zwischen-
    fall verstrichen. Sie hätten mich auch in ihren Gestapokeller
    mitnehmen können, wenn sie die erstklassige Beute entdeckt
    hätten, die ich darstellte. Man hätte ihnen auf die Schulter
    geklopft und sie gewiß beglückwünscht, wenn sie einen als
    Hitlerjungen verkleideten Juden gefangen hätten …
    Wir überfuhren die Grenze. Die Städtenamen und die
    Landschaften bewiesen, daß wir uns in Polen befanden. Wir
    näherten uns Lodz.
    Spät in der Nacht traf ich auf dem Kaliszki-Bahnhof in
    167
    Lodz ein. Ich hatte von vornherein beschlossen, kein Hotel
    aufzusuchen, um Risiken zu vermeiden. In Hotels mußte man
    Meldezettel ausfül en. Ich wol te dort nicht mit den polnischen
    Empfangsportiers in Berührung kommen, denn wer konnte besser
    als sie jüdische Gesichter erkennen, sie geradezu »riechen«? Ich
    zog es vor, auf Komfort und Gefahr gleichermaßen zu verzichten
    und die Nacht lieber auf dem Bahnhof zu verbringen. Tag und
    Nacht wimmelte es hier so von Menschen, daß es nicht auffiel,
    wenn man sich nachts auf einer der breiten Holzbänke in den
    Ecken der Wartehal en ausstreckte.
    Ich nahm mir vor, jede Nacht die Bank zu wechseln, um
    nicht aufzufallen. Ich wollte keine Vorsichtsmaßnahme außer
    acht lassen, um ja nicht den deutschen Geheimdienstbeamten
    und den polnischen Spitzeln in die Hände zu fallen, die sich
    hier ständig herumtrieben.
    Immerhin war ich zur Hälfte untadelig, ich trug eine Uni-
    form und hatte echte Papiere. Die zweite Hälfte aber drohte,
    wegen des ungewöhnlichen Verhaltens Argwohn zu erregen.
    Ich konnte mich nicht zweiteilen, und wie aus einem Guß
    zu sein, war auch nicht möglich. Also mußte ich ein Ganzes,
    aber ein aus zwei Hälften bestehendes Ganzes bleiben.
    Ich gab meinen Koffer in die Gepäckaufbewahrung und
    behielt nur die allernotwendigsten Sachen. Ich streifte durch
    den Bahnhof, den ich seit der Zeit, da ich ein »großer Junge«
    geworden war, gut kannte. Kaliszki war ein riesiger Eisen-
    bahnknotenpunkt. Zahllose Reisende strömten ständig aus
    und ein. Ich irrte in diesem Bahnhof umher und erinnerte
    mich an vieles. Früher hatte ich Lodz des öfteren über diesen
    Bahnhof verlassen, zu einer Zeit, da die Sonne für mich noch
    schien – weit vor dem Holocaust.
    168
    Einige Wochen, nachdem ich mit meiner Familie von Peine
    nach Lodz übergesiedelt war, hatte mich ein naher Verwandter
    väterlicherseits zu Ferien in einem der berühmtesten Kurorte in
    Polen, nach Ciechocinek eingeladen. Dort gefiel es mir. Gärten
    mit weißen und roten Blumen – den polnischen Nationalfarben,
    den Symbolen der Unschuld und der Liebe – überzogen die
    ganze Gegend. Ich verursachte meinem Verwandten al erdings
    zunächst

Weitere Kostenlose Bücher