Ich war Hitlerjunge Salomon
erhebliche Unannehmlichkeiten, als ich mich auf
der Hinfahrt ständig erbrach. Eine alte weise Frau half dem
peinlichen Übel ab. Sie riet ihm, mich in Fahrtrichtung auf
die Bank zu setzen.
Auf der gefahrvollen Reise, die ich jetzt hinter mich ge-
bracht hatte, litt ich ebenfalls unter einem Brechreiz, aber aus
anderen Gründen …
Ich entsann mich anderer aufregender Ferien. Am Ende
des Schuljahres 1938 hatten meine Eltern mich nach Chelm
und Zamosc zu Vettern meines Vaters geschickt. Als Schlo-
imele, als kleiner Jecke, wurde ich herzlich aufgenommen.
Meine Gastgeber besaßen Holzlager außerhalb der Stadt in
dieser eigenartigen kargen Landschaft. Dort nahm ich an
einer prächtigen jüdischen Hochzeit teil, der Hochzeit des
Sohnes des Hauses. Mein Zimmer lag direkt neben dem des
jungen Paares, und mein Bett stand direkt an der Wand zu
diesem Zimmer. Nach der Feier, zu später Nachtstunde, wurde
ich von ungewöhnlichen Geräuschen geweckt, die aus dem
Nebenzimmer drangen. Auf Zehenspitzen eilte ich zur Tür
und schaute durch das Schlüsselloch. Ich erkannte Schatten,
die sich bewegten. Ich stellte mir alles mögliche vor, und als
ich dann wieder in meinem warmen Bett lag, überließ ich
mich wohligen Gedanken und Gefühlen. Es war das erste
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Mal, daß ich von diesem Teil der Liebe erfuhr. Das junge Paar
hatte mich nicht bemerkt … Aber mein Besuch in Zamosc
beschränkte sich nicht auf einen heimlichen Blick durch das
Schlüsselloch. Es eröffnete sich mir eine jiddische Welt, die
ich noch nicht gekannt hatte und die bald vernichtet werden
sollte. Wir verlebten unbeschwerte Tage, und niemand ahnte,
was bald in einer nahen Kleinstadt namens Treblinka gesche-
hen würde. Heute bin ich tief betrübt und bestürzt über das
tragische Schicksal der Hochzeitsgäste, über das Schicksal
meiner Verwandten, des jungen Paares und ihres wahrschein-
lich inzwischen geborenen Kindes. Wenn ich manchmal über
Treblinka spreche, habe ich diese Familie wieder vor Augen.
Mir bricht das Herz, wenn ich an diese geliebten Menschen
denke, die niemals mehr wiederkehren werden.
Nach dem Ende des Schuljahres 1939, das ich mit einem
hervorragenden Zeugnis auf der Grundschule Konstadt in
Lodz abgeschlossen hatte, fuhr ich mit meinen Eltern in ein
kleines polnisches Dorf in die Ferien, nach Kolumno. Der
Gedanke, daß ich nach den Ferien auf das hebräische Gym-
nasium von Lodz kommen sollte, erfüllte mich mit Freude.
Doch es kam anders. Der Überfall der Deutschen Wehr-
macht auf Polen bereitete den unbekümmerten Ferien in der
schönen Umgebung von Kolumno und damit auch al en Schul-
plänen ein jähes Ende. Aus diesem Dorf konnten wir nicht
mehr mit der Bahn nach Hause zurückkehren, weil die Gleise
durch Bombenangriffe zerstört waren. Wir liehen uns einen
Pferdekarren von einem polnischen Bauern. Damit schlugen
wir uns nach Lodz durch. Vier Monate später schickten mich
meine Eltern mit meinem Bruder auf die Flucht.
Und jetzt, in dieser Nacht, vier Jahre später, war ich
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zurückgekommen, zwar heimlich, aber mit gültigen Papieren,
zwar frei, aber nur dem Anschein nach.
Die ganze Nacht quälten mich Erinnerungen. Ich konnte
nicht schlafen und verbrachte die endlos scheinenden Stunden
unter den vielen wartenden Reisenden. Die strenge Nachtkälte
spürte ich nicht. Ich fieberte den Ereignissen am folgenden
Morgen entgegen. Langsam zog er herauf. Einige Tassen
Ersatzkaffee, der hier verkauft wurde, halfen mir, die lange
Nacht zu überstehen. Im Morgengrauen glaubte ich, keine
Nerven mehr zu haben, und meine Ungeduld wuchs ins
Unendliche. Meine Eltern lebten unter demselben Himmel,
in derselben Stadt, aber sie waren so fern von mir, als befän-
den sie sich auf einem anderen, verbotenen Planeten jenseits
aller Grenzen, und das einzig und allein wegen des Wahns
dieser Rassisten.
Bevor noch der Tag anbrach, streckte ich meine vor Müdig-
keit steifen Glieder und begab mich zu den öffentlichen Toi-
letten, um mich zu waschen und meine Kleidung in Ordnung
zu bringen. Ich überprüfte mein Äußeres, und als ich mit mir
zufrieden war, machte ich mich auf den Weg zum Ghetto von
Lodz. Salomon-Jupp stieg selbstbewußt die steinerne Bahnhof-
streppe hinab und ging zur zentralen Straßenbahnhaltestelle.
Ich suchte die Bahn, die mich an mein Ziel bringen sollte.
Ich wußte, wo das Ghetto lag und wo meine Eltern wohn-
ten. Das hatten sie mir auf einer der Postkarten
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