Ich war Hitlerjunge Salomon
Triumph des Lebens. Wir begrüßten uns herzlich. Die
Stunde der Wahrheit war gekommen. »Otto, hör jetzt zu! Ich
will dir mein Geheimnis verraten. Ich war nie Deutscher, ich
bin von Kopf bis Fuß Jude.« Peinliches Schweigen entstand.
Otto wurde bleich und fragte, wie ich das alles fertiggebracht
hätte. Er verdrängte seine anderen Gefühle und schien äu-
ßerlich völlig ruhig.
Ich erzählte ihm alles. Als ich geendet hatte, schaute er
mich bestürzt an und sagte: »Ja, ich gebe es zu, man hat
uns getäuscht. Das Drama ist, daß sich die Bevölkerung,
allen voran die Jugend, von der Propaganda der Obrigkeit
so leicht hinters Licht führen läßt und fest an die Aufrich-
tigkeit des eigenen Landes glaubt.« Seine Naivität machte
mich stumm. Ich hatte kein Mitleid mit ihm. Wir saßen
längere Zeit zusammen, schließlich gab es viel zu erzählen.
Und dann lud ich ihn ein, mit mir zu meinem Bruder zu
kommen. Er zögerte eine Weile – verständlicherweise, denn
ich sagte ihm, auf welchen Kreis er dort treffen würde. Er
stimmte trotzdem zu.
Am darauffolgenden Sonntag gingen wir zu Isaak und seiner
Frau Mira. Sie hatte aus diesem Anlaß einen traditionellen
Käsekuchen gebacken.
Eingeladen war derselbe Kreis, der zuvor noch an meiner
Geschichte gezweifelt hatte. Otto und ich berichteten von
unseren gemeinsamen Erlebnissen als Hitlerjungen und be-
seitigten damit die letzten Zweifel an der Wahrheit meiner
Schilderungen. Umgekehrt wurde Otto hier endgültig bestätigt,
daß ich ein Jude bin.
In unserem HJ-Heim bekamen wir alle vierzehn Tage
Ausgang. Meistens nutzten wir ihn, um in einer Bierstube
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Kartoffelpüree mit Gemüse zu essen – das einzige, was ohne
Lebensmittelmarken möglich war – und ein Bier zu trinken.
An diesen Abenden schloß sich uns gewöhnlich ein hüb-
sches BDM-Mädchen an, das viele Liebhaber hatte, auch aus
unserer Gruppe.
Als es eines Tages hieß, daß einige von ihnen zu gewissen
ärztlichen Untersuchungen vorgeladen worden seien, versetzte
mir das einen gehörigen Schrecken. Sie sollte sich, so wurde
gemunkelt, einen Tripper zugezogen und einige Jungen an-
gesteckt haben.
Ein ungeheuerlicher Skandal! Unsere Hochburg der »Rein-
heit und Ehre« geriet in helle Aufregung. Ich hatte mich mit
dem Mädel zwar nicht vergnügt, aber die Furcht, daß alle,
mit denen sie sich getroffen hatte, vorgeladen werden könnten,
fraß an mir. Auf keinen Fall durfte es dazu kommen, denn
dann hätte es keine Chance mehr gegeben, mein Geschlecht zu
verbergen. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt.
Doch allmählich flatterten die Vorladungen seltener ins Haus
und hörten schließlich ganz auf. Mein Name befand sich nicht
auf der Liste! Ich atmete auf. Die Tage bangen Wartens waren
verstrichen, und der Alpdruck des nahen Endes wich von mir.
Es war im Dezember 1943. Die Weihnachtsferien standen
vor der Tür. Eines abends saß ich im Lesesaal und suchte
mir Unterlagen für ein Gespräch mit einer soeben bei uns
eingetroffenen Gruppe von Vierzehnjährigen zusammen. Als
Scharführer wurde mir die Verantwortung für die Gruppe
übertragen. Ich sol te den Jungen etwas über die Herausbildung
des Stolzes und die Bedeutung der deutschen Bauernschaft
vortragen, die das Blut und die Rasse »rein erhielt«. Ich ver-
tiefte mich mit dem angemessenen Ernst in die umfangreich
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vorhandene Literatur. Ich war seit jeher wißbegierig gewesen.
Trotz der völlig unpassenden Rolle, die ich spielen mußte,
erfüllte ich meine Aufgabe freudig und gab mein Bestes. Ich
war als Jupp überzeugend. Die Jungen meiner Gruppe moch-
ten mich und hatten Respekt vor mir. Der Nimbus eines
»alten Veteranen«, der in einer Panzerdivision gekämpft hatte,
umgab mich. Ihre Gehirne waren bereits unrettbar vernebelt
und manipuliert. Ich kannte die Gedankengänge, ich wußte,
welcher Wind hier wehte, daher fiel es mir leicht, Vorträge
im nationalsozialistischen Geist zu verfassen.
Ich saß also an jenem Abend ruhig im Lesesaal und baute
meinen Vortrag auf. Da hörte ich die halblaute Unterhaltung
einiger am Nebentisch sitzender Kameraden. Ich verstand,
daß sie bereits ihre Urlaubsscheine für Weihnachten und ihre
Eisenbahnfahrkarten erhalten hatten. Sie schienen sich auf das
baldige Wiedersehen mit ihren Familien zu freuen. Das »bei
meinen Eltern« klang mir beständig in den Ohren und wurde
immer lauter. Mich überlief es heiß. Meine trockenen
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