Ich war Hitlerjunge Salomon
geschrieben,
die sie mir ins Waisenhaus nach Grodno geschickt hatten.
An dem ersten Wagen hing ein Schild: »Nur für Deutsche.«
Ohne zu zögern stieg ich ein. Ich war ja Reichsdeutscher. Es
war mir bewußt, daß ich ein anderer und, zumindest dem
Gefühl nach, wieder derjenige sein würde, der ich wirklich
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war, sobald ich in die Gegend des Ghettos gelangte. Doch
wer war ich wirklich? Ich weiß es nicht …
Das Signal zur Abfahrt, die elektrische Klingel, holte mich
aus meinen Gedanken zurück. Es ging los. Neugierig suchte
ich die mir bekannten Straßen wiederzuentdecken. Als wir
uns über die Piotrkowskastraße dem Zentrum näherten, ka-
men mir die Gebäude immer vertrauter vor. Wir fuhren an
der hiesigen Filiale der Firma »Gentleman« vorüber, aus der
wir noch kurz vor ihrer Plünderung die zusammenfaltbaren
Regenschirme gerettet hatten, mit denen wir, mein Bruder
und ich, unsere Reise nach Osten hatten »finanzieren« kön-
nen. Einst hatte es in dieser blühenden Stadt regen Handel
gegeben. Arthur Rubinstein wurde hier geboren, Dzigan und
Szumacher und andere jüdische Künstler hatten hier gewirkt.
Jetzt ähnelte sie einer Geisterstadt. Die Bewohner, die von
den Besatzern gedemütigt und wie Abschaum behandelt wur-
den, schlichen durch die Straßen. Ein Teil der Geschäfte und
Lokale bot seine Dienste ausschließlich Deutschen an. Auch
ich fuhr in einem für Polen verbotenen Straßenbahnwagen …
Es fiel mir schwer, die niedere Gesinnung eines bestimmten
Teils der polnischen Bevölkerung zu begreifen und zu akzep-
tieren. Antisemitische Faschisten und Stiefel ecker warfen sich
vor ihren aus dem Westen gekommenen neuen Herren in den
Staub und boten ihnen ihre schandbare Mitarbeit an, anstatt
sich ihren Landsleuten anzuschließen, die für die Freiheit der
Menschen, für ein freies Polen kämpften.
Beinahe hätte ich meine Haltestel e verpaßt. Sie hieß früher
einmal Platz der Freiheit , und der bestach durch die Schönheit
seiner mit Statuen geschmückten öffentlichen Gebäude und
die malerischen Balkone. Die Deutschen benannten Lodz
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in Litzmannstadt um und gaben auch diesem Platz einen
anderen Namen. Von hier gingen mehrere Hauptstraßen ab,
eine davon die Nowomaiskaallee, die zum Ghetto führte. Ich
legte den Rest der Strecke zu Fuß zurück und gelangte zur
Polnotznastraße, eine Ecke, die ich noch gut kannte. Meh-
rere Häuser waren abgerissen worden. So hatte man eine Art
Grenzstreifen um das Ghetto gelegt, um Fluchtversuche zu
erschweren. Vor dem Krieg hatte ich hier Verwandte besucht,
die in der Nummer 6 wohnten. Jeden Sabbat nach dem tra-
ditionellen Hamin- Essen machten wir einen Spaziergang bis
hierher und tranken bei unseren Verwandten Tee. Ich hatte
den Geschmack des Mohnkuchens noch auf der Zunge …
Ich kletterte auf einen Trümmerhaufen. Von dort aus konnte
ich zum ersten Mal in das Ghetto schauen. Ich erstarrte. Hinter
dem hohen Palisadenzaun bewegten sich graue Gestalten. Sie
gingen langsam und gebeugt.
Dieser furchtbare Anblick! Mir wurde schwarz vor Augen,
mich würgte es. Die Tränen liefen mir herunter, auf den Lip-
pen spürte ich ihren salzigen Geschmack. Einmal noch meine
geliebten Eltern sehen, damit sich ihr Bild in mir einbrenne!
Ich war ausgehungert nach dem Anblick der feinen Züge
meiner Mutter, nach dem Anblick meines zärtlichen Vaters
mit dem intelligenten Gesicht.
Ich wollte ihnen durch mein Erscheinen einen Funken
Glück bringen, ihnen einen Lichtstrahl in die schreckliche
Finsternis ihres Lebens senden und wenigstens ein bißchen
ihre Qualen mildern, die Sehnsucht nach ihrem Sohn. Wenn
ihr Tod wirklich verfügt war, so sollten sie doch in dem Wis-
sen, daß ihr Sohn Schloimele lebte, ihre letzte Ruhe finden.
Ich stand immer noch auf dem Trümmerhaufen und schaute,
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überwältigt von dieser tragischen, schmerzlichen Erkenntnis.
Ich fühlte, wie sehr die aufgesetzte Gelassenheit von mir wich.
Mir verschwamm alles. Ich wußte nicht mehr, was ich war
und wer ich war, wen ich warum suchte … Ich stieg von dem
Schuttberg herab und näherte mich dem Zaun. Meine Schritte
schienen den Boden nicht mehr zu berühren, ich empfand eine
völ ige Leere um mich herum. Vor dem Zaun blieb ich stehen.
Ich berührte den dicken verrosteten Stacheldraht. Wie durch
einen Nebel bemerkte ich ein großes gelbes Schild, auf dem
in riesigen Lettern stand: »Jüdisches Wohnviertel – verbotene
Zone –
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