Ich war Hitlerjunge Salomon
Seuchengefahr.«
Vor meinen Augen bewegten sich die Juden des Ghettos wie
in sich versunkene Schatten. Meine Brüder in Lumpen gehül t,
aschfahl! Unsäglicher Kummer lähmte mich. Solange schon,
eine Ewigkeit hatte ich keinen Juden mehr gesehen … Außer
den grotesken Karikaturen in meinem Klassenzimmer … Ich
stand und schaute, wie hypnotisiert von ihrem schleppenden
Gang; sie schienen verzweifelt die winzige Flamme Leben zu
hüten, die noch glomm und die zu verglühen drohte.
In vier Tagen würden meine HJ-Kameraden die »Heilige
Nacht« der Geburt Jesu feiern. Im Chor würden sie Weih-
nachtslieder singen, unter den funkelnden Sternen am Tan-
nenbaum. Mein Herz fror, und nichts gab es, das es hätte
trösten können. Plötzlich ging hinter der Absperrung eine
Frau am Bordstein entlang. Sie hatte große Mühe, einen Fuß
vor den anderen zu setzen und war in einen grauen, schwarz-
gesäumten Wollschal gewickelt. Es war bitter kalt, und sie
versuchte sich warmzuhalten. Ich hatte auf einmal das Gefühl,
daß ich sie kannte. Sie sah meiner Mutter ähnlich. War sie
es? Ich starrte sie unverwandt an. Meine Phantasie überzeugte
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mich, daß sie es ganz gewiß war. Großer Gott, ich war von
so weit hergekommen, um meine Mutter zu sehen. Hatte sie
einer deiner Engel zu mir geführt?
»Mama, Mama«, rief ich stumm, an meinem Zaun klebend.
»Ich bin gekommen, um dir Dank zu sagen, Mama, um
dir zu zeigen, daß das schreckliche Opfer, daß du gebracht
hast, nicht vergeblich war. Wenn ich größer sein und auch
ein Kind haben werde, kann ich vielleicht die Größe deines
inneren Kampfes und den tiefen Schmerz ermessen, den du
empfunden haben mußt, als du zu meinem Bruder sagtest:
›Isaak, mein Sohn, nimm den kleinen Sal y mit dir und führe
ihn dem Leben entgegen!‹ Ich wurde dir grausam entrissen
und komme jetzt wieder zu dir zurück. Nur ein Zaun trennt
uns. Ich sehe keine Kinder auf den Straßen … Und du in
deiner Größe, du hast mich gerettet!«
Die Frau setzte ihren Weg fort, sie schaute nicht einmal
in meine Richtung und bog um die Ecke. Ich stand da, wie
in Trance. Ich wollte sie anrufen, tat es aber nicht. Ein Kon-
trol mechanismus in meinem Gehirn hinderte mich daran. Ich
zerbarst innerlich. Fieber schüttelte mich. Den Zaun entlang
lief ich in die Richtung, in der die Frau verschwunden war.
Wie lange und wie weit, weiß ich nicht. Plötzlich stand ich
am Eingang des Ghettos.
Das Tor, dessen Flügel aus dicken Holzbohlen bestanden,
war offen. Ich schaute mich um, und mein Blick fiel auf das
Schild der Franziskanskastraße. Wie nahe war ich meinen
geliebten Eltern! Nur wenige Häuser trennten mich von der
Verwirklichung meines sehnsüchtigen Traums. Zur Nummer
18 zog es mich mit jeder Faser meines Wesens. Am Anfang
der Straße gingen einige Menschen, jeder von ihnen sah Vater
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oder Mutter gleich. Mir zerbrach es das Herz. Und jetzt konn-
te der Zensor, der Kontrolleur meines Lebens, nicht verhin-
dern, daß ich wider mich selbst handelte. Ich trat durch das
Ghettotor und ging näher. Ich stand jetzt eine Armlänge von
ihnen entfernt. Ich fühlte mich seltsam gestärkt. Ich hatte den
Eindruck, nach Hause gekommen zu sein. Ich begriff nichts
mehr. Ich war so erschüttert und aufgeregt, daß ich beinahe
die Beherrschung verlor. Da stand ich in meiner schwarzen
Winteruniform bei gefangenen Juden, denen nahezukommen
mir verboten war. Die Gefühle und Gedanken überstürzten
sich in meinem Kopf. Mir fehlen die Worte, um zu schildern,
was in diesen Minuten in mir vorging.
Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Wenn sich nun
meine Mutter zufällig unter den Menschen befände, mich
wiedererkennen und »Schloimele, mein Sohn!« rufen würde?
Würde ich sie dann mit der ganzen mir verbleibenden Kraft
umarmen? Nein, dachte ich sogleich, ich würde nicht ant-
worten, ich würde so tun, als wäre sie mir fremd. Ein solch
ungewöhnlicher Vorfall hätte unser beider Ende bedeuten
können. Welcher Hitlerjunge hätte schon das Ghetto betreten,
um eine »alte Jüdin« zu küssen? Ein schweres Vergehen, auf
das der Tod stand. Wenn es so käme, überlegte ich weiter,
würde ich meiner Mutter lediglich verstohlen zu verstehen
geben, daß ich es tatsächlich sei. Wir würden uns in der
Hoffnung auf ein neues Wiedersehen mit einem Blickwechsel
begnügen. Aber könnten wir uns zurückhalten?
Diese Gedanken nahmen mich ganz in Anspruch. Plötz-
lich
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