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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
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Seuchengefahr.«
    Vor meinen Augen bewegten sich die Juden des Ghettos wie
    in sich versunkene Schatten. Meine Brüder in Lumpen gehül t,
    aschfahl! Unsäglicher Kummer lähmte mich. Solange schon,
    eine Ewigkeit hatte ich keinen Juden mehr gesehen … Außer
    den grotesken Karikaturen in meinem Klassenzimmer … Ich
    stand und schaute, wie hypnotisiert von ihrem schleppenden
    Gang; sie schienen verzweifelt die winzige Flamme Leben zu
    hüten, die noch glomm und die zu verglühen drohte.
    In vier Tagen würden meine HJ-Kameraden die »Heilige
    Nacht« der Geburt Jesu feiern. Im Chor würden sie Weih-
    nachtslieder singen, unter den funkelnden Sternen am Tan-
    nenbaum. Mein Herz fror, und nichts gab es, das es hätte
    trösten können. Plötzlich ging hinter der Absperrung eine
    Frau am Bordstein entlang. Sie hatte große Mühe, einen Fuß
    vor den anderen zu setzen und war in einen grauen, schwarz-
    gesäumten Wollschal gewickelt. Es war bitter kalt, und sie
    versuchte sich warmzuhalten. Ich hatte auf einmal das Gefühl,
    daß ich sie kannte. Sie sah meiner Mutter ähnlich. War sie
    es? Ich starrte sie unverwandt an. Meine Phantasie überzeugte
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    mich, daß sie es ganz gewiß war. Großer Gott, ich war von
    so weit hergekommen, um meine Mutter zu sehen. Hatte sie
    einer deiner Engel zu mir geführt?
    »Mama, Mama«, rief ich stumm, an meinem Zaun klebend.
    »Ich bin gekommen, um dir Dank zu sagen, Mama, um
    dir zu zeigen, daß das schreckliche Opfer, daß du gebracht
    hast, nicht vergeblich war. Wenn ich größer sein und auch
    ein Kind haben werde, kann ich vielleicht die Größe deines
    inneren Kampfes und den tiefen Schmerz ermessen, den du
    empfunden haben mußt, als du zu meinem Bruder sagtest:
    ›Isaak, mein Sohn, nimm den kleinen Sal y mit dir und führe
    ihn dem Leben entgegen!‹ Ich wurde dir grausam entrissen
    und komme jetzt wieder zu dir zurück. Nur ein Zaun trennt
    uns. Ich sehe keine Kinder auf den Straßen … Und du in
    deiner Größe, du hast mich gerettet!«
    Die Frau setzte ihren Weg fort, sie schaute nicht einmal
    in meine Richtung und bog um die Ecke. Ich stand da, wie
    in Trance. Ich wollte sie anrufen, tat es aber nicht. Ein Kon-
    trol mechanismus in meinem Gehirn hinderte mich daran. Ich
    zerbarst innerlich. Fieber schüttelte mich. Den Zaun entlang
    lief ich in die Richtung, in der die Frau verschwunden war.
    Wie lange und wie weit, weiß ich nicht. Plötzlich stand ich
    am Eingang des Ghettos.
    Das Tor, dessen Flügel aus dicken Holzbohlen bestanden,
    war offen. Ich schaute mich um, und mein Blick fiel auf das
    Schild der Franziskanskastraße. Wie nahe war ich meinen
    geliebten Eltern! Nur wenige Häuser trennten mich von der
    Verwirklichung meines sehnsüchtigen Traums. Zur Nummer
    18 zog es mich mit jeder Faser meines Wesens. Am Anfang
    der Straße gingen einige Menschen, jeder von ihnen sah Vater
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    oder Mutter gleich. Mir zerbrach es das Herz. Und jetzt konn-
    te der Zensor, der Kontrolleur meines Lebens, nicht verhin-
    dern, daß ich wider mich selbst handelte. Ich trat durch das
    Ghettotor und ging näher. Ich stand jetzt eine Armlänge von
    ihnen entfernt. Ich fühlte mich seltsam gestärkt. Ich hatte den
    Eindruck, nach Hause gekommen zu sein. Ich begriff nichts
    mehr. Ich war so erschüttert und aufgeregt, daß ich beinahe
    die Beherrschung verlor. Da stand ich in meiner schwarzen
    Winteruniform bei gefangenen Juden, denen nahezukommen
    mir verboten war. Die Gefühle und Gedanken überstürzten
    sich in meinem Kopf. Mir fehlen die Worte, um zu schildern,
    was in diesen Minuten in mir vorging.
    Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Wenn sich nun
    meine Mutter zufällig unter den Menschen befände, mich
    wiedererkennen und »Schloimele, mein Sohn!« rufen würde?
    Würde ich sie dann mit der ganzen mir verbleibenden Kraft
    umarmen? Nein, dachte ich sogleich, ich würde nicht ant-
    worten, ich würde so tun, als wäre sie mir fremd. Ein solch
    ungewöhnlicher Vorfall hätte unser beider Ende bedeuten
    können. Welcher Hitlerjunge hätte schon das Ghetto betreten,
    um eine »alte Jüdin« zu küssen? Ein schweres Vergehen, auf
    das der Tod stand. Wenn es so käme, überlegte ich weiter,
    würde ich meiner Mutter lediglich verstohlen zu verstehen
    geben, daß ich es tatsächlich sei. Wir würden uns in der
    Hoffnung auf ein neues Wiedersehen mit einem Blickwechsel
    begnügen. Aber könnten wir uns zurückhalten?
    Diese Gedanken nahmen mich ganz in Anspruch. Plötz-
    lich

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