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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
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führen? Ich
    wünschte nichts sehnlicher als die Verwirklichung dieses
    Traums, der einer so gewaltig anderen Realität angehörte.
    Es war dies ein menschliches Abenteuer, das das Gute und
    Böse, Glück und Vernichtung in sich trug. Was danach
    kam, existierte nicht.
    Inzwischen traf ich meine Reisevorbereitungen und be-
    sorgte mir die vorschriftsmäßigen Papiere: einen offiziellen
    Urlaubsschein, den Mitgliedsausweis der Hitlerjugend, einen
    Führerschein, Lebensmittelkarten und – Taschengeld. Die
    Kleiderkammer schickte mir tadellos gebügelte braune Hem-
    den. Meine Winteruniform reinigte ich selbst und bürstete sie
    sorgfältig aus. Jedem Abzeichen, jedem Rangabzeichen und
    jeder Auszeichnung widmete ich mich besonders. Mein unge-
    wöhnliches Vorhaben, das mir der Regisseur meines Schicksals
    diktiert hatte, barg zahlreiche Risiken in sich. Ich hatte den
    Eindruck, daß jemand das Drehbuch geschrieben hatte und
    ich meine Rolle bis ins kleinste Detail überzeugend spielen
    mußte. Kein Fehler durfte mir unterlaufen, um mein Ziel
    zu erreichen. Ich hatte nicht nur lange Stunden im Zug zu
    verbringen, sondern fuhr in eine andere Welt, um mein Volk,
    meine im Ghetto lebenden Eltern wiederzufinden … Hier
    prallten zwei Welten aufeinander, die Monde voneinander
    entfernt lagen. Und ich stand dazwischen, stand in jeder von
    ihnen und damit in keiner …
    Was mich erwartete, wußte ich, wollte es mir aber nicht
    eingestehen. Ich weigerte mich zu sehen, was geschehen könn-
    te. Würde ich straucheln, ein Opfer einer unkontrollierbaren
    Versuchung, und untergehen? Mein Inneres war in Aufruhr,
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    und dennoch meinte ich in aller Unschuld, meine Eltern
    wiederzusehen, mit ihnen meine Schulferien zu verbringen
    und danach wieder hierher zurückzukehren. So wie meine
    Kameraden. Was war erstaunlich daran, daß ich, der Hitler-
    junge Salomon, das gleiche wollte?
    Der nebulöse Traum, der verzweifelte Ruf eines einsamen
    Kindes, wurde an dem Tag Wirklichkeit, da ich mich von
    meinen Kameraden verabschiedete, die ebenfalls in die Ferien
    fuhren. Ich strengte mich an, mir nichts anmerken zu lassen.
    Ich dankte ihnen für ihre guten Wünsche zu den Feiertagen
    und für meine Reise und wünschte ihnen in der Hoffnung
    auf ein baldiges Wiedersehen al es Gute. Aber würde ich denn
    wiederkommen? Würden Sie mich Wiedersehen? Ich wußte es
    nicht. Doch diese Fragen beschäftigten mich nicht eigentlich
    und durchkreuzten keineswegs meine Pläne.
    In meiner mit Ehrenabzeichen geschmückten Uniform
    begab ich mich zum Bahnhof. Meine in mehreren Etappen
    verlaufende Reise würde schwierig werden. Ich mußte mich
    auf strenge Kontrollen der Gestapo und Kripo gefaßt ma-
    chen. Diesen beiden Polizeiorganisationen war gemeinsam,
    daß sie das Recht hatten, wen auch immer ins Gefängnis zu
    werfen, zu foltern und zu ermorden. Obwohl die Gestapo
    ein politischer Geheimdienst und die Kripo für kriminelle
    Delikte zuständig war, bestand zwischen den beiden, was die
    »Liquidierung feindlicher Elemente«, also der Juden, betraf,
    kein Unterschied.
    Selbst dieses Wissen konnte mich von meinem Vorhaben
    nicht abbringen. Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof
    und setzte mich dort gemütlich in ein Abteil.
    Überal vermittelte sich vorweihnachtliche Stimmung. Der
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    Stationsvorsteher gab das Signal, und der Zug setzte sich in
    Bewegung.
    Ich vertiefte mich in die Zeitungen, die Artikel über die
    »strategische Wiederherstellung der Ostfront« brachten. In
    Wahrheit hatte man »Rückzug« zu lesen, den die offiziellen
    Stellen in einen Sieg ummünzten. Schon nach kurzer Fahrt
    beschlichen mich Zweifel. Ich sah von meiner Zeitung auf, und
    betrachtete die vorbeifliegenden umgegrabenen Äcker. Eine
    innere Stimme meldete sich und flüsterte: »Komm zu dir, es
    hat doch keinen Sinn weiterzufahren. Kehr nach Braunschweig
    zurück. Du setzt dein Leben für etwas aufs Spiel, das du nicht
    verwirklichen kannst. Verlier den Überblick nicht, laß nicht
    al es fahren!« Ich steckte den Kopf aus dem Fenster, um meine
    düsteren Gedanken verfliegen zu lassen. Dann ließ ich mich
    wieder auf die Bank fallen, und biß, um meine Aufregung
    zu dämpfen, in ein mit Rauchfleisch belegtes Brot.
    Mir gingen unablässig widersprüchliche Gedanken durch
    den Kopf. Die Stimme der Reue wurde lauter, wandte sich
    an meinen Verstand. Der Zug dampfte weiter gen Osten.
    Ich fühlte in mir die wütende Kraft von Wasserfluten, die
    sich am Riff brechen.

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