Ich war Hitlerjunge Salomon
führen? Ich
wünschte nichts sehnlicher als die Verwirklichung dieses
Traums, der einer so gewaltig anderen Realität angehörte.
Es war dies ein menschliches Abenteuer, das das Gute und
Böse, Glück und Vernichtung in sich trug. Was danach
kam, existierte nicht.
Inzwischen traf ich meine Reisevorbereitungen und be-
sorgte mir die vorschriftsmäßigen Papiere: einen offiziellen
Urlaubsschein, den Mitgliedsausweis der Hitlerjugend, einen
Führerschein, Lebensmittelkarten und – Taschengeld. Die
Kleiderkammer schickte mir tadellos gebügelte braune Hem-
den. Meine Winteruniform reinigte ich selbst und bürstete sie
sorgfältig aus. Jedem Abzeichen, jedem Rangabzeichen und
jeder Auszeichnung widmete ich mich besonders. Mein unge-
wöhnliches Vorhaben, das mir der Regisseur meines Schicksals
diktiert hatte, barg zahlreiche Risiken in sich. Ich hatte den
Eindruck, daß jemand das Drehbuch geschrieben hatte und
ich meine Rolle bis ins kleinste Detail überzeugend spielen
mußte. Kein Fehler durfte mir unterlaufen, um mein Ziel
zu erreichen. Ich hatte nicht nur lange Stunden im Zug zu
verbringen, sondern fuhr in eine andere Welt, um mein Volk,
meine im Ghetto lebenden Eltern wiederzufinden … Hier
prallten zwei Welten aufeinander, die Monde voneinander
entfernt lagen. Und ich stand dazwischen, stand in jeder von
ihnen und damit in keiner …
Was mich erwartete, wußte ich, wollte es mir aber nicht
eingestehen. Ich weigerte mich zu sehen, was geschehen könn-
te. Würde ich straucheln, ein Opfer einer unkontrollierbaren
Versuchung, und untergehen? Mein Inneres war in Aufruhr,
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und dennoch meinte ich in aller Unschuld, meine Eltern
wiederzusehen, mit ihnen meine Schulferien zu verbringen
und danach wieder hierher zurückzukehren. So wie meine
Kameraden. Was war erstaunlich daran, daß ich, der Hitler-
junge Salomon, das gleiche wollte?
Der nebulöse Traum, der verzweifelte Ruf eines einsamen
Kindes, wurde an dem Tag Wirklichkeit, da ich mich von
meinen Kameraden verabschiedete, die ebenfalls in die Ferien
fuhren. Ich strengte mich an, mir nichts anmerken zu lassen.
Ich dankte ihnen für ihre guten Wünsche zu den Feiertagen
und für meine Reise und wünschte ihnen in der Hoffnung
auf ein baldiges Wiedersehen al es Gute. Aber würde ich denn
wiederkommen? Würden Sie mich Wiedersehen? Ich wußte es
nicht. Doch diese Fragen beschäftigten mich nicht eigentlich
und durchkreuzten keineswegs meine Pläne.
In meiner mit Ehrenabzeichen geschmückten Uniform
begab ich mich zum Bahnhof. Meine in mehreren Etappen
verlaufende Reise würde schwierig werden. Ich mußte mich
auf strenge Kontrollen der Gestapo und Kripo gefaßt ma-
chen. Diesen beiden Polizeiorganisationen war gemeinsam,
daß sie das Recht hatten, wen auch immer ins Gefängnis zu
werfen, zu foltern und zu ermorden. Obwohl die Gestapo
ein politischer Geheimdienst und die Kripo für kriminelle
Delikte zuständig war, bestand zwischen den beiden, was die
»Liquidierung feindlicher Elemente«, also der Juden, betraf,
kein Unterschied.
Selbst dieses Wissen konnte mich von meinem Vorhaben
nicht abbringen. Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof
und setzte mich dort gemütlich in ein Abteil.
Überal vermittelte sich vorweihnachtliche Stimmung. Der
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Stationsvorsteher gab das Signal, und der Zug setzte sich in
Bewegung.
Ich vertiefte mich in die Zeitungen, die Artikel über die
»strategische Wiederherstellung der Ostfront« brachten. In
Wahrheit hatte man »Rückzug« zu lesen, den die offiziellen
Stellen in einen Sieg ummünzten. Schon nach kurzer Fahrt
beschlichen mich Zweifel. Ich sah von meiner Zeitung auf, und
betrachtete die vorbeifliegenden umgegrabenen Äcker. Eine
innere Stimme meldete sich und flüsterte: »Komm zu dir, es
hat doch keinen Sinn weiterzufahren. Kehr nach Braunschweig
zurück. Du setzt dein Leben für etwas aufs Spiel, das du nicht
verwirklichen kannst. Verlier den Überblick nicht, laß nicht
al es fahren!« Ich steckte den Kopf aus dem Fenster, um meine
düsteren Gedanken verfliegen zu lassen. Dann ließ ich mich
wieder auf die Bank fallen, und biß, um meine Aufregung
zu dämpfen, in ein mit Rauchfleisch belegtes Brot.
Mir gingen unablässig widersprüchliche Gedanken durch
den Kopf. Die Stimme der Reue wurde lauter, wandte sich
an meinen Verstand. Der Zug dampfte weiter gen Osten.
Ich fühlte in mir die wütende Kraft von Wasserfluten, die
sich am Riff brechen.
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