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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
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baute sich ein Mann in einem dunklen Mantel vor mir
    auf. Er trug eine Schirmmütze mit einem weißen David-
    stern. An der Armbinde erkannte ich, daß ich einen jüdischen
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    Ghetto-Polizisten vor mir hatte. Unsere Blicke trafen sich. Er
    strahlte Autorität aus, doch die Verblüffung war ihm anzu-
    merken. Ich hatte das Gefühl einer eigenartigen Schicksals-
    gemeinschaft. Wir sahen einander wortlos an. Hinter mir
    hörte ich jemand in dialektgefärbtem Deutsch fragen, was
    ich denn hier wohl suche. Ein Wachposten, anscheinend ein
    Volksdeutscher, stand neben mir. In der deutschen Hierarchie,
    die strikt beachtet wurde, stand ich als Reichsdeutscher über
    ihm. Daher setzte er eine verbindliche Miene auf. Über mei-
    ner Hakenkreuzarmbinde waren die Worte »Bann 468 Nord-
    Niedersachsen, Braunschweig« eingestickt. Er registrierte die
    Stickerei, und ich brauchte mich nicht auszuweisen. Er teilte
    mir aber höflich mit, daß ich mich verlaufen hätte. »Hier
    wohnen die Juden, wußtest du das nicht?« Ich zuckte die
    Schultern. »Der Eintritt ist verboten. Du kannst dir hier alle
    möglichen Krankheiten holen, es gibt sogar Seuchen«, erklärte
    er. Seine Sorge um meine Gesundheit »rührte« mich, und
    ich dankte lächelnd für den Hinweis. Er solle sich aber nicht
    weiter beunruhigen, ich würde seinen Rat befolgen und mich
    entfernen. Ich kam wieder zu mir, ich hatte meine fünf Sinne
    wieder beisammen – Jupp war Herr der Lage. Ich erklärte
    ihm kaltblütig, daß ich mich auf der Durchreise befände. Er
    verstand das so, daß ich in das nicht-jüdische Viertel jenseits
    des Ghettos wollte und empfahl mir, die Straßenbahn zu
    nehmen, die durch das jüdische Viertel hindurchfuhr.
    Ich befolgte seinen Rat. Die Möglichkeit, das Ghetto mit
    der Straßenbahn zu durchqueren, behagte mir. Ich ging vom
    Tor weg zur Haltestelle, die nicht weit vom Ghettoeingang
    entfernt lag. Wie immer, wenn man ungeduldig auf sie wartet,
    ließ sich die Bahn auch dieses Mal Zeit. Verwundert stellte
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    ich fest, wie normal das Leben rings um das erbärmliche
    Ghetto verlief, in dem Hunderte von Frauen, Kindern und
    Männern an Hunger und Krankheiten starben. Auf keinem
    der Gesichter der Passanten bemerkte ich Irritation darüber
    oder irgendein Zeichen des Protestes. Ich war bestürzt über
    das erschütternde Desinteresse und die Gleichgültigkeit, die
    wenige Meter vor den Ghettomauern herrschten. Die Tatsache,
    daß man sich an das Grauen gewöhnt, erscheint mir noch
    heute als die erschreckendste Reaktion, deren die Menschheit
    fähig ist. Die Gespaltenheit der Welt, die ich damals erfuhr,
    hat mich unwiderruflich geprägt.
    Die Straßenbahn kündigte sich durch lautes Rattern an.
    Wenig später fuhr sie in die Straße ein, sie schaukelte in
    der Kurve. Der Fahrer klingelte, die Räder kreischten, und
    die Bahn kam genau vor der Haltestelle zum Stillstand. Ich
    wandte mich dem Wagen zu, der den Deutschen vorbehalten
    war, während die Polen, die mit mir gewartet hatten, in den
    für sie bestimmten steigen mußten.
    Ich zwängte mich nicht in das Wageninnere, um mich
    neben die anderen Passagiere zu setzen, ich blieb bei der Front-
    scheibe stehen. Ich wußte, daß ich bei der Einfahrt ins Ghetto
    die Fassung zu verlieren drohte, was die arischen Reisenden
    gewiß nicht verstehen würden, und wenn sie verstünden …
    Der Fahrer, hinter den ich mich gestellt hatte, warf mir
    einen raschen Blick zu. Er schaute prüfend denjenigen an, der
    ihm in den Nacken blies, und kümmerte sich wieder um seine
    Bahn. Seine Uniform war sauber und mit den Abzeichen der
    Litzmannstadter Verkehrsbetriebe geschmückt.
    Die schweren Torflügel schwangen zurück, die Bahn über-
    fuhr die Ghettogrenze und hielt. Der jüdische Polizist, dem ich
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    gerade noch gegenübergestanden hatte, näherte sich, ging um
    das Fahrzeug herum und verschloß mit einem Spezialschlüssel
    alle Türen. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern soll-
    te, daß Juden aus dem Ghetto in die Straßenbahn drangen;
    jetzt konnte nur noch von innen geöffnet werden. Einem
    deutschen oder polnischen Fahrgast wäre es jedoch sowieso
    kaum eingefallen, einem Juden, der sein Leben retten wollte,
    die Türen zu öffnen.
    Als der Polizist außen alles verriegelt hatte, setzte sich die
    Bahn langsam wieder in Bewegung. Sie bog in die Fran-
    ziskanskastraße ein, und ich konnte nur mit Mühe dem
    Gefühlssturm Herr werden, der jetzt in mir tobte, Minuten
    äußerster

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