Ich war Hitlerjunge Salomon
baute sich ein Mann in einem dunklen Mantel vor mir
auf. Er trug eine Schirmmütze mit einem weißen David-
stern. An der Armbinde erkannte ich, daß ich einen jüdischen
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Ghetto-Polizisten vor mir hatte. Unsere Blicke trafen sich. Er
strahlte Autorität aus, doch die Verblüffung war ihm anzu-
merken. Ich hatte das Gefühl einer eigenartigen Schicksals-
gemeinschaft. Wir sahen einander wortlos an. Hinter mir
hörte ich jemand in dialektgefärbtem Deutsch fragen, was
ich denn hier wohl suche. Ein Wachposten, anscheinend ein
Volksdeutscher, stand neben mir. In der deutschen Hierarchie,
die strikt beachtet wurde, stand ich als Reichsdeutscher über
ihm. Daher setzte er eine verbindliche Miene auf. Über mei-
ner Hakenkreuzarmbinde waren die Worte »Bann 468 Nord-
Niedersachsen, Braunschweig« eingestickt. Er registrierte die
Stickerei, und ich brauchte mich nicht auszuweisen. Er teilte
mir aber höflich mit, daß ich mich verlaufen hätte. »Hier
wohnen die Juden, wußtest du das nicht?« Ich zuckte die
Schultern. »Der Eintritt ist verboten. Du kannst dir hier alle
möglichen Krankheiten holen, es gibt sogar Seuchen«, erklärte
er. Seine Sorge um meine Gesundheit »rührte« mich, und
ich dankte lächelnd für den Hinweis. Er solle sich aber nicht
weiter beunruhigen, ich würde seinen Rat befolgen und mich
entfernen. Ich kam wieder zu mir, ich hatte meine fünf Sinne
wieder beisammen – Jupp war Herr der Lage. Ich erklärte
ihm kaltblütig, daß ich mich auf der Durchreise befände. Er
verstand das so, daß ich in das nicht-jüdische Viertel jenseits
des Ghettos wollte und empfahl mir, die Straßenbahn zu
nehmen, die durch das jüdische Viertel hindurchfuhr.
Ich befolgte seinen Rat. Die Möglichkeit, das Ghetto mit
der Straßenbahn zu durchqueren, behagte mir. Ich ging vom
Tor weg zur Haltestelle, die nicht weit vom Ghettoeingang
entfernt lag. Wie immer, wenn man ungeduldig auf sie wartet,
ließ sich die Bahn auch dieses Mal Zeit. Verwundert stellte
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ich fest, wie normal das Leben rings um das erbärmliche
Ghetto verlief, in dem Hunderte von Frauen, Kindern und
Männern an Hunger und Krankheiten starben. Auf keinem
der Gesichter der Passanten bemerkte ich Irritation darüber
oder irgendein Zeichen des Protestes. Ich war bestürzt über
das erschütternde Desinteresse und die Gleichgültigkeit, die
wenige Meter vor den Ghettomauern herrschten. Die Tatsache,
daß man sich an das Grauen gewöhnt, erscheint mir noch
heute als die erschreckendste Reaktion, deren die Menschheit
fähig ist. Die Gespaltenheit der Welt, die ich damals erfuhr,
hat mich unwiderruflich geprägt.
Die Straßenbahn kündigte sich durch lautes Rattern an.
Wenig später fuhr sie in die Straße ein, sie schaukelte in
der Kurve. Der Fahrer klingelte, die Räder kreischten, und
die Bahn kam genau vor der Haltestelle zum Stillstand. Ich
wandte mich dem Wagen zu, der den Deutschen vorbehalten
war, während die Polen, die mit mir gewartet hatten, in den
für sie bestimmten steigen mußten.
Ich zwängte mich nicht in das Wageninnere, um mich
neben die anderen Passagiere zu setzen, ich blieb bei der Front-
scheibe stehen. Ich wußte, daß ich bei der Einfahrt ins Ghetto
die Fassung zu verlieren drohte, was die arischen Reisenden
gewiß nicht verstehen würden, und wenn sie verstünden …
Der Fahrer, hinter den ich mich gestellt hatte, warf mir
einen raschen Blick zu. Er schaute prüfend denjenigen an, der
ihm in den Nacken blies, und kümmerte sich wieder um seine
Bahn. Seine Uniform war sauber und mit den Abzeichen der
Litzmannstadter Verkehrsbetriebe geschmückt.
Die schweren Torflügel schwangen zurück, die Bahn über-
fuhr die Ghettogrenze und hielt. Der jüdische Polizist, dem ich
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gerade noch gegenübergestanden hatte, näherte sich, ging um
das Fahrzeug herum und verschloß mit einem Spezialschlüssel
alle Türen. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern soll-
te, daß Juden aus dem Ghetto in die Straßenbahn drangen;
jetzt konnte nur noch von innen geöffnet werden. Einem
deutschen oder polnischen Fahrgast wäre es jedoch sowieso
kaum eingefallen, einem Juden, der sein Leben retten wollte,
die Türen zu öffnen.
Als der Polizist außen alles verriegelt hatte, setzte sich die
Bahn langsam wieder in Bewegung. Sie bog in die Fran-
ziskanskastraße ein, und ich konnte nur mit Mühe dem
Gefühlssturm Herr werden, der jetzt in mir tobte, Minuten
äußerster
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