Ich war Hitlerjunge Salomon
Anspannung. Ich stand noch unter dem Eindruck
des verheerenden Widerspruchs zwischen der bestürzenden
Gleichgültigkeit da draußen und der Atmosphäre der Ver-
nichtung und Ohnmacht, die hier hinter der von einer be-
stialischen Herrschaft errichteten Mauer über al em lag. Mein
Körper war wie gelähmt. Ich sah die Hausnummern kaum.
Meine Augen irrten suchend voraus, um schon von weitem
das Haus meiner Eltern zu erkennen. Und da! Da tauchte
das Ziel meiner Reise vor mir auf! Da stand das Haus, in
das zu kommen ich mir so sehnlich gewünscht hatte. Ich
preßte mich gegen die Scheiben. Ich weiß nicht, wie das Glas
dem Druck meines Körpers standhalten konnte … »Halt an,
verdammte Straßenbahn! Bleib stehen! Laß mich noch eine
Minute schauen!« Ich brannte darauf, meine Mutter zu sehen.
Vielleicht waren ihre Gefühle noch nicht abgestumpft, und
vielleicht trieb sie ja der mütterliche Instinkt, daß ihr Sohn
in der Nähe war, ans Fenster.
Wir waren jetzt auf gleicher Höhe mit dem Haus Nummer
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18. Hinter den dunklen Fenstern regte sich nichts. Das Wunder
geschah nicht. Die Räder drehten sich weiter. Meiner Kehle
entfuhr ein dumpfer Seufzer. Der Fahrer drehte den Kopf
und sah mich seltsam an.
Ich starrte stur nach draußen, viel eicht käme ein Verwandter
oder ein Freund des Weges. Wenigstens einen Blickkontakt
mit einem Bekannten herstel en! Meine Augen wanderten vom
Trottoir zur Straße, von den Passanten zu den Häuserfenstern.
Die Menschen auf der Straße erschienen mir unwirklich. Erst
nach dem Krieg erfuhr ich, daß sich zur Zeit meines Besuches
im Ghetto die meisten Juden aus Lodz bereits in Auschwitz
befanden. Die sich jetzt noch im Ghetto aufhielten, stammten
aus der Umgebung und sahen ihrer baldigen Deportation
entgegen.
Die deutschen Fahrgäste blickten nicht aus den Straßen-
bahnfenstern. Den lebenden Beweis menschlicher Greueltaten,
die sich hier verewigten, wollten sie nicht wahrhaben. Ihre
Gesichtszüge drückten völlige geistige Ruhe aus. Während
ich sie betrachtete, ging mir auf, wie Gleichgültigkeit und
Verbrechen in ihnen nebeneinanderher existierten. Wie war
das möglich? Hegten sie denn alle, alle ohne Ausnahme die
gleichen Gefühle? Schlug ihnen denn nicht das Gewissen?
Heute würden sie antworten: »Unser Herz war von Trauer
erfüllt über alles, was da geschah. Was aber hätten wir tun
können?«
Die Geschwindigkeit wurde in einer Kurve gedrosselt. Und
an der Biegung, auf gleicher Höhe mit dem Straßenbahnfenster,
bot sich mir der deprimierendste, der erschütterndste Anblick,
dem ich je ausgesetzt war. Vier Männer zogen und stießen
einen rumpelnden Karren, der mit Leichen beladen war, die
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man mit einem Stoffetzen, wohl einem ehemals weißen Laken,
bedeckt hatte. Unter dem Leinentuch schauten die nackten
ausgemergelten Glieder der Toten hervor. Die Körper waren in
einer grotesken Vermengung durcheinandergeworfen worden.
Dieses furchtbare Schauspiel zerriß mir das Herz. Der Karren
fuhr in ein Schlagloch der schadhaften Straße. Arme und
Beine baumelten, hoben sich, fielen zurück, hoben sich von
neuem, fielen dann endgültig in ihre Ausgangslage zurück
und wurden weiter über das Pflaster geschleppt.
So wurden sie zu ihren Gräbern gezogen. Ein schrecklicher
Gedanke kam mir: Wenn sich meine geliebte Mutter unter
diesen Leichen befände! Oder mein Vater!
Herr der Welt! Hast du eine Antwort, hast du eine Erklä-
rung für das Geschehen an diesem Ort des Schreckens, an
dem die Gemeinde deiner Gläubigen lebt?
Am liebsten hätte ich mich auf den Boden des Wagens
geworfen und aufgebrüllt.
Doch die Straßenbahn setzte ihre Fahrt fort, und das
Martyrium meiner Glaubensbrüder blieb hinter mir zurück.
Mein Blick trübte sich, die Gegenstände verschwammen vor
meinen Augen.
Wir erreichten den Ausgang des Ghettos, die Bahn hielt.
Undeutlich sah ich einen anderen jüdischen Polizisten, der
die verriegelten Türen wieder öffnete.
An der ersten Haltestelle nach dem Ghetto stieg ich aus.
Ziel os irrte ich durch die Straßen. Ich hatte nirgendwohin zu
gehen, keinen Menschen, an den ich mich hätte wenden kön-
nen. Der Anblick des Ghettos und des grausigen Totenkarrens
hatte mich verstört. Vier Jahre waren verstrichen, seitdem ich
meine Eltern und mein Haus verlassen hatte, aber eine solch
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tiefe Verzweiflung, eine solche Hoffnungslosigkeit hatte ich
bisher noch nicht empfunden. Gab es eine Macht,
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