Ich war Hitlerjunge Salomon
die meinen
Traum verwirklichen, die mich in die Arme meiner Eltern
führen könnte? Könnte diese Sehnsucht wahr werden, ohne
daß ich für meine Unvorsichtigkeit bestraft würde? Ich war
nicht gekommen, um zu sehen und zu sterben, sondern um
meinen Eltern zu begegnen und weiterzuleben. Ich war nicht
gekommen, um mich gefangenzugeben und den Nazis ihr
verbrecherisches Handwerk zu erleichtern, nicht, um mich dem
Henker auszuliefern, der mich, mit doppelter Freude natürlich,
hingerichtet hätte. Meine Mutter hätte mir ein solches Opfer
nicht verziehen; ich hatte die Pflicht, mich wieder unter die
Henker zu mischen, um den letzten Willen meiner Mutter
zu erfüllen: Du sollst leben!
Mir standen noch zehn Ferientage zu. Ich beschloß, sie
darauf zu verwenden, jeden Tag mehrmals das Ghetto zu
durchfahren, in der Hoffnung, daß mir Glück beschieden sei
und meine Suche Erfolg hätte. Aber ich durfte die mit dem
Plan verbundene Gefahr nicht außer Acht lassen, durfte die
Zahl der Fahrten nicht übertreiben, um nicht den Argwohn
eines Geheimbeamten oder anderer Neugieriger zu erregen.
So hätte sich der Straßenbahnfahrer, offensichtlich ein Pole,
etwa darüber wundern können, daß ein sich seltsam beneh-
mender Hitlerjunge, der von der Tür nicht wegging, ständig
im jüdischen Viertel hin- und herfuhr. Er hätte auf den Ge-
danken kommen können, dies der Gestapo zu melden, die
sich ein Vergnügen daraus gemacht hätte, mich zu verhaften
und Nachforschungen anzustellen.
Es versteht sich von selbst, daß ich in Anbetracht meiner
höchst prekären Situation jedes Ding mit äußerster Vorsicht
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in Angriff nehmen mußte. Ich wußte nicht, wie oft die Bahn
fuhr, aber seit ich ausgestiegen war, waren mehr als zwei
Stunden vergangen. Ich überquerte den Damm und wartete
auf die Straßenbahn, die zurückfuhr. Ich mischte mich unter
die vor mir eingestiegenen Fahrgäste. Ich fühlte mich wie ein
Wesen von einem fremden Stern, wie ein einsamer Vogel, der
seine Fluggefährten verloren hatte. Wie war es nur möglich,
daß ich den geliebten Menschen räumlich so nahe war und
sie doch nicht sehen konnte? Konnte der Teufel mich derartig
verhöhnen?
Vor Kälte und Ohnmacht zitternd setzte ich mich auf die
Bank. Ich verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Ich hatte
die Straßenbahn nur erwartet, um einen zweiten Blick auf
»mein Haus« werfen zu können. Als sie gekommen war, war
ich erneut in den Privilegiertenwagen gestiegen. Ich bemerkte
denselben Fahrer, der mich wieder merkwürdig ansah. Nach
dem Verriegelungsritual schlossen sich die Ghettotore wieder
hinter uns. Ich hatte auch dieses Mal nicht das Glück, meine
Eltern zu sehen.
Für meine späteren Fahrten bereitete ich einen Zettel vor,
auf den ich in Polnisch schrieb: »An die Familie Perel, Ghet-
to Lodz, Franziskanskastraße 18. Salek lebt. Beobachtet die
vorüberfahrenden Straßenbahnen!« Ich steckte das Blatt in
die Tasche, um es bei der ersten Gelegenheit nach draußen
fallenzulassen, hoffend, eine mitleidige Seele werde die Bot-
schaft meinen Eltern übermitteln. Doch selbst diese Mitteilung
erreichte ihre Empfänger nie. Das Papier blieb zusammenge-
faltet in meiner Tasche. Ich warf es nicht hinaus. Weder an
diesem Tag noch an einem der folgenden. Schließlich zerriß
ich es in kleine Fetzen. Das verzeihe ich mir noch heute nicht.
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Vielleicht fürchtete ich, der Brief könnte in falsche Hände
geraten. Doch das ist kein Trost.
Auf diese Weise also verbrachte ich die nächsten Tage. Ich
schlief sitzend auf einer an einem Tisch stehenden Bank im
Bahnhof, machte auf den öffentlichen WC’s Morgentoilette,
frühstückte im Bahnhofsbuffet und fuhr zum Ghetto. Fast
jedes Mal traf ich auf denselben schweigsamen Fahrer. Ich
versuchte zwar, seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen,
da ich aber in dieser Umgebung deplaziert wirkte, war mir
bewußt, daß er jede meiner Fahrten registrierte.
Zwischen den Hin- und Rückfahrten hatte ich viel Zeit,
die ich auf den mir vertrauten Straßen von Lodz verbrachte.
Wie schon bei meinem wehmütigen Aufenthalt in Peine, hatte
ich die Absicht, die Stätten meiner Kindheit aufzusuchen.
Stundenlang marschierte ich jeden Tag durch diese große Stadt,
ohne jemandem zu begegnen, mit dem ich ein herzliches oder
liebenswürdiges Wort hätte wechseln können.
Ich hatte den Einfall, einen meiner ehemaligen Klassenleh-
rer zu besuchen, einen Herrn Klemezki – kein
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