Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
Vom Netzwerk:
die meinen
    Traum verwirklichen, die mich in die Arme meiner Eltern
    führen könnte? Könnte diese Sehnsucht wahr werden, ohne
    daß ich für meine Unvorsichtigkeit bestraft würde? Ich war
    nicht gekommen, um zu sehen und zu sterben, sondern um
    meinen Eltern zu begegnen und weiterzuleben. Ich war nicht
    gekommen, um mich gefangenzugeben und den Nazis ihr
    verbrecherisches Handwerk zu erleichtern, nicht, um mich dem
    Henker auszuliefern, der mich, mit doppelter Freude natürlich,
    hingerichtet hätte. Meine Mutter hätte mir ein solches Opfer
    nicht verziehen; ich hatte die Pflicht, mich wieder unter die
    Henker zu mischen, um den letzten Willen meiner Mutter
    zu erfüllen: Du sollst leben!
    Mir standen noch zehn Ferientage zu. Ich beschloß, sie
    darauf zu verwenden, jeden Tag mehrmals das Ghetto zu
    durchfahren, in der Hoffnung, daß mir Glück beschieden sei
    und meine Suche Erfolg hätte. Aber ich durfte die mit dem
    Plan verbundene Gefahr nicht außer Acht lassen, durfte die
    Zahl der Fahrten nicht übertreiben, um nicht den Argwohn
    eines Geheimbeamten oder anderer Neugieriger zu erregen.
    So hätte sich der Straßenbahnfahrer, offensichtlich ein Pole,
    etwa darüber wundern können, daß ein sich seltsam beneh-
    mender Hitlerjunge, der von der Tür nicht wegging, ständig
    im jüdischen Viertel hin- und herfuhr. Er hätte auf den Ge-
    danken kommen können, dies der Gestapo zu melden, die
    sich ein Vergnügen daraus gemacht hätte, mich zu verhaften
    und Nachforschungen anzustellen.
    Es versteht sich von selbst, daß ich in Anbetracht meiner
    höchst prekären Situation jedes Ding mit äußerster Vorsicht
    182
    in Angriff nehmen mußte. Ich wußte nicht, wie oft die Bahn
    fuhr, aber seit ich ausgestiegen war, waren mehr als zwei
    Stunden vergangen. Ich überquerte den Damm und wartete
    auf die Straßenbahn, die zurückfuhr. Ich mischte mich unter
    die vor mir eingestiegenen Fahrgäste. Ich fühlte mich wie ein
    Wesen von einem fremden Stern, wie ein einsamer Vogel, der
    seine Fluggefährten verloren hatte. Wie war es nur möglich,
    daß ich den geliebten Menschen räumlich so nahe war und
    sie doch nicht sehen konnte? Konnte der Teufel mich derartig
    verhöhnen?
    Vor Kälte und Ohnmacht zitternd setzte ich mich auf die
    Bank. Ich verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Ich hatte
    die Straßenbahn nur erwartet, um einen zweiten Blick auf
    »mein Haus« werfen zu können. Als sie gekommen war, war
    ich erneut in den Privilegiertenwagen gestiegen. Ich bemerkte
    denselben Fahrer, der mich wieder merkwürdig ansah. Nach
    dem Verriegelungsritual schlossen sich die Ghettotore wieder
    hinter uns. Ich hatte auch dieses Mal nicht das Glück, meine
    Eltern zu sehen.
    Für meine späteren Fahrten bereitete ich einen Zettel vor,
    auf den ich in Polnisch schrieb: »An die Familie Perel, Ghet-
    to Lodz, Franziskanskastraße 18. Salek lebt. Beobachtet die
    vorüberfahrenden Straßenbahnen!« Ich steckte das Blatt in
    die Tasche, um es bei der ersten Gelegenheit nach draußen
    fallenzulassen, hoffend, eine mitleidige Seele werde die Bot-
    schaft meinen Eltern übermitteln. Doch selbst diese Mitteilung

erreichte ihre Empfänger nie. Das Papier blieb zusammenge-
    faltet in meiner Tasche. Ich warf es nicht hinaus. Weder an
    diesem Tag noch an einem der folgenden. Schließlich zerriß
    ich es in kleine Fetzen. Das verzeihe ich mir noch heute nicht.
    183
    Vielleicht fürchtete ich, der Brief könnte in falsche Hände
    geraten. Doch das ist kein Trost.
    Auf diese Weise also verbrachte ich die nächsten Tage. Ich
    schlief sitzend auf einer an einem Tisch stehenden Bank im
    Bahnhof, machte auf den öffentlichen WC’s Morgentoilette,
    frühstückte im Bahnhofsbuffet und fuhr zum Ghetto. Fast
    jedes Mal traf ich auf denselben schweigsamen Fahrer. Ich
    versuchte zwar, seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen,
    da ich aber in dieser Umgebung deplaziert wirkte, war mir
    bewußt, daß er jede meiner Fahrten registrierte.
    Zwischen den Hin- und Rückfahrten hatte ich viel Zeit,
    die ich auf den mir vertrauten Straßen von Lodz verbrachte.
    Wie schon bei meinem wehmütigen Aufenthalt in Peine, hatte
    ich die Absicht, die Stätten meiner Kindheit aufzusuchen.
    Stundenlang marschierte ich jeden Tag durch diese große Stadt,
    ohne jemandem zu begegnen, mit dem ich ein herzliches oder
    liebenswürdiges Wort hätte wechseln können.
    Ich hatte den Einfall, einen meiner ehemaligen Klassenleh-
    rer zu besuchen, einen Herrn Klemezki – kein

Weitere Kostenlose Bücher