Ich war Hitlerjunge Salomon
Jude natürlich.
Die Einsamkeit, unter der ich litt, und die Vergeßlichkeit be-
stärkten mich in dem Glauben, ich fände bei ihm Verständnis
und Unterstützung. Dieser abenteuerlichen Idee lagen Unreife
und Einfalt zugrunde, doch entsprang sie einem übervollen
Herzen. Ich bedurfte so sehr des Trostes, egal von wem. Vor
dem Krieg war ich in meiner Eigenschaft als Vorsitzender
der Studentenliga für den Luftschutz, LOPP, bei der er aktiv
mitwirkte, des öfteren bei ihm gewesen. Er wohnte in der
Allee des 3. Mai, so benannt nach dem Feiertag der polni-
schen Verfassung. Mühelos fand ich das Gebäude und stieg
in den zweiten Stock, bevor ich vor seiner Tür Halt machte.
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Durch ein schmales Fensterchen im Treppenhaus konnte ich
in seine Küche sehen. Er saß mit seiner Frau beim Essen.
Ich zauderte. Sollte ich klingeln? Plötzlich schrie eine innere
Stimme: »Halt! Tu es nicht! Geh, wie du gekommen bist!« Es
schoß mir nämlich durch den Kopf, daß auch dieser Lehrer,
dem ich früher vertraut hatte, mir heute gefährlich werden
könnte. Unter einem militärischen Besatzungsregime passen
sich viele an, und einige werden zu Denunzianten. Hinzu
kam, daß bloß ein jüdisches Kind auf der Waagschale lag.
Ernüchtert verließ ich rasch den Ort.
– Mehrere Jahre nach dem Krieg traf ich ehemalige Klas-
senkameraden aus Lodz. Ich erzählte ihnen von meiner dama-
ligen Absicht, den Lehrer Klemezki aufzusuchen, um Trost bei
ihm zu finden. Da erfuhr ich von ihnen, daß er sehr schnell
ein begeisterter Kollaborateur der Nazis geworden war, und
natürlich hätte er mich auf der Stelle verhaften lassen. –
Ich lenkte meine Schritte zur Zakontnastraße 17, wo wir
bis zu der schmerzlichen Trennung und bis zur Vertreibung
meiner restlichen Familie hinter die Ghettomauern gewohnt
hatten. Während ich mich dem Haus näherte, stürmten Er-
innerungen auf mich ein. Hier hatte ich meine ersten Ver-
abredungen mit Mädchen gehabt. Jetzt schien alles fremd
und kalt. Traurig schaute ich auf die Hausmauern und die
wohlbekannten Pflastersteine, die stummen Zeugen all des-
sen, was ich hier erlebt hatte. Den Gruß des unverhofften
Besuchers erwiderten sie nicht.
Ich war an der Tür meines Hauses angelangt, ein dreistök-
kiges Eckhaus. Ich trat ein. Im selben Augenblick erschien
die vertraute Gestalt des Portiers im Türrahmen. Er hatte sich
nicht verändert und trug noch immer seine alte Mütze. Ich
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hatte ihm einst geholfen, mit einem Wasserschlauch Trottoir
und Hof zu reinigen. Wenn das Wasser sprudelte, drückte ich
mit Lust auf das Gummiende, damit das Wasser nach allen
Seiten spritzte. Den Bruchteil einer Sekunde dachte ich dar-
an, mich zu erkennen zu geben und ihn in mein Geheimnis
einzuweihen. Doch sogleich verwarf ich diese dumme Idee,
blickte mich vorsichtig nach ihm um und ging selbstbewußt
auf die Treppe zu. Im ersten Stock postierte ich mich vor
unserer alten Wohnungstür. Von innen hörte ich lebhaftes
Stimmengewirr. Neben der Klingel stand ein fremder Name.
Die Mesusa , die man abgenommen hatte, hatte ihre Spur auf
dem rechten Türpfosten hinterlassen.
Welch teurer, vertrauter Ort! Wir waren eine glückliche
Familie gewesen. Am Abend versammelten wir uns, und das
Haus war erfüllt von Lärm und freudigem Treiben. Mein
jüngerer Bruder David war der Witzbold unserer Familie, und
wir erstickten fast vor Lachen, wenn er seine Späße trieb.
Besonders bei Tisch spielte er uns gerne Streiche. War er der
Meinung, Mama habe ihm nicht genügend Suppe aufgetan,
steckte er den Finger in den Teller unserer Schwester Bertha,
die natürlich darauf verzichtete, weiterzuessen. Mama schimpfte
ein bißchen, mußte dann aber selbst mitlachen.
Isaak war am ernstesten und strengsten von uns. Tüch-
tigkeit und Ordnungsliebe waren seine Hauptcharakterzüge.
Er überwachte sorgfältig meine schulischen Fortschritte und
vergaß nie zu prüfen, ob ich alle meine Aufgaben gemachte
hatte … Als wir noch in Peine und später dann in Lodz
lebten, schickte er mich spazieren und verlangte danach einen
detaillierten Bericht von mir über die Eindrücke, die ich auf
der Straße gesammelt hatte.
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Ich erinnerte mich an meine Schwester Bertha. Sie war ein
wunderschönes junges Mädchen, ihr Gesicht und ihr Körper
waren vollkommen. Sie brachte mir das Tanzen bei, und wir
tanzten zu Radiomusik Slowfox und Tango. Später kamen dann
andere Rhythmen. Wir hörten auch
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