Ich war nur kurz bei Paul
im Jahr. Wenn du dir dann vorstellst, dass es in der Erdkruste nur mit zirka 0,1 Gramm pro Tonne vorkommt, dann wäre es 'ne Riesensache, es auf unsere Weise herstellen zu können. Aber rechne die Kosten, um Silbernitratlösung und Ammoniak in ausreichenden Mengen zu bekommen, dann noch der elektrische Aufwand. Zurzeit reichen die Ressourcen nicht aus, um den Jahresbedarf zu decken, deshalb ergänzt man aus Lagerbeständen, die aber irgendwann aufgebraucht sind. Man versucht deshalb, den Recycling-Anteil aus Industrieabfällen zu erhöhen.«
Als der farnartige Silberbaum fast die Anode erreicht hatte, schaltete Julius den Strom aus und löste mit der Pinzette die Büroklammer aus der Krokodilklemme. Er trocknete sie durch Pusten und legte sie dann auf das Mikroskop. Nachdem er ein wenig herumgestellt hatte, wies er Ralf an, hindurch zu sehen.
Ralf kniff die Augen zusammen und schaute sich den Silberfarn auf dem Objektträger an. Bizarre Schönheit tat sich vor seinen Augen auf. An den Rändern des Farns brachen sich silbrig glänzend die Lichtstrahlen der Mikroskoplampe. »Sieht echt toll aus!« Ralf hob den Kopf und sah Julius bewundernd an. »Und du hast keine Angst, dass dir irgend wann einmal so eine Versuchs-Anordnung um die Ohren fliegt?«
»Nein, man muss sich natürlich vorher im Klaren darüber sein, was man tut. Jeder Versuchsaufbau muss daher entsprechend gewissenhaft vorbereitet werden!«
***
Diesen Tag hatte Ralf sich anders vorgestellt: Er hatte sich so darauf gefreut, Paul bei diesem Spiel unter den Zuschauern zu sehen. Ihm war das rote Fahrrad sofort aufgefallen, das da abseits der anderen Räder unabgeschlossen stand. Pauls Meinung dazu war, dass niemand ein so altes Fahrrad stehlen würde, schon gar nicht, weil es ein Damenfahrrad war.
Er hatte Paul gesucht und ihn auch schnell gefunden. Bis zum Spielbeginn waren noch rund zwanzig Minuten Zeit. Ralf sah sofort, dass etwas mit seinem Freund nicht stimmte, obwohl dieser sich alle Mühe gab, so unbefangen wie möglich zu wirken. »Paul, was ist los? Ich merke doch, dass etwas mit dir nicht stimmt. Was ist passiert?«
Schon als er Paul die Frage stellte, ahnte er, dass keine gute Antwort kommen würde. »Junge, du kennst mich schon zu gut, als dass ich dir etwas vorspielen könnte. Es ist tatsächlich etwas passiert, aber das erzähl ich dir besser nach dem Spiel. Sieh zu, dass ihr gewinnt. Spielst du wieder in der Verteidigung?«
»Nein, dieses Mal im Mittelfeld. Du kannst mich nicht bis nach dem Spiel warten lassen! Bitte, Paul, sag was los ist!«
»Nun ja, ich kann es wohl ohnehin nicht verheimlichen: Das Karlchen ist weg, einfach spurlos verschwunden! Ich versteh das nicht!« Paul schnäuzte sich geräuschvoll und seine Augen waren verdächtig gerötet. Ralf war wie vom Donner gerührt. Karlchen? Weg? Das konnte nicht sein! »Wie ist denn das passiert, Paul? Du lässt ihn doch meistens ohne Leine laufen.«
»Das ist es ja, was ich nicht verstehe! Ich hatte ihn gestern vorm Schlafengehen noch einmal vor die Tür gelassen. Er flitzt dann immer über den Hof aus der Toreinfahrt hinaus und dann die paar Meter bis zu dem verwilderten Grundstück, wo seit Jahren das Bauschild drauf steht. Dann warte ich auf ihn vor der Tür und rauche noch ein bisschen, und in spätestens fünf Minuten ist er zurück. Diesmal jedoch nicht! Ich bin dann hinterher und hab ihn gesucht; es war ja noch nicht ganz dunkel. Nichts! Einfach weg! Hab die halbe Nacht die Straße abgesucht und ihn gerufen. Heute Vormittag hab ich auch dieses verwilderte Grundstück noch einmal inspiziert, ob da vielleicht irgendein offener Brunnenschacht ist, in den er hinein gefallen sein könnte. Nichts, auch Fehlanzeige. Vielleicht ist er ja auch nur einer läufigen Hündin hinterher, und er taucht einfach demnächst wieder auf, aber das ist bisher nie seine Art gewesen. Ich mach mir wirklich Sorgen um ihn.«
Ralf ergriff Pauls Hand und drückte sie. Er war jetzt genau so bekümmert wie Paul. Plötzlich freute er sich auch nicht mehr auf das bevorstehende Spiel. Der Stadionlautsprecher hatte soeben die Mannschafts-Aufstellungen bekannt gegeben. Nun ertönte er noch einmal:
"Ralf Jensen, bitte umgehend zur Mannschafts-Kabine kommen - Ralf Jensen zur Mannschafts-Kabine!"
Ralf blickte erschrocken auf seine Uhr. Er hatte nicht bemerkt, dass es schon so spät geworden war. »Ich muss los, Paul! Ich komme nach dem Spiel zu dir
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