Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
umgekehrt sind, desto mehr Raum eröffnet sich auch für Schuldgefühle und Reue. Wir fangen an zu grübeln: Warum habe ich das bloß getan? Warum habe ich mich – von den unzähligen Ferienorten, die es gibt – ausgerechnet für dieses Hotel auf dieser (verregneten) Insel entschieden? Der US-Sozialpsychologe Barry Schwartz beschreibt in seinem Buch Anleitung zur Unzufriedenheit , wie das Risiko, nach einer Entscheidung von Schuldgefühlen und Reue geplagt zu werden, mit den Wahlmöglichkeiten wächst: »Je mehr Optionen es gibt, desto mehr Hätte-ich-dochs lassen sich finden. Und mit jedem Hätte-ich-doch , das Sie finden, wird die Reue ein bisschen größer und die Zufriedenheit mit der tatsächlich getroffenen Wahl ein bisschen kleiner. Es mag zwar ärgerlich sein, in eine Bank zu gehen und festzustellen, dass nur eine Kasse offen ist und dass eine lange Schlange davorsteht, aber es gibt keinen Anlass zum Bedauern. Doch wenn es zwei lange Schlangen gibt und Sie wählen die falsche?« [21]
Dieses letztgenannte Beispiel hat wahrscheinlich mehr mit dem Konzept der Alternativkosten zu tun. Strenggenommen kommt es, wenn wir die falsche Schlange wählen, ja nicht zu tiefen Reuegefühlen. Schuld und Reue gibt es wohl nur in Zusammenhang mit moralischen Vergehen. Wenn ich für meine Freundin und mich einen Urlaub buche, der sich als Albtraum herausstellt, dann spüre ich nicht nur so etwas wie ein Bedauern angesichts der vielen schönen anderen Reisen, die wir im gleichen Zeitraum hätten machen können (Alternativkosten). Ich fühle mich schuldig obendrein: weil ich es war, der meiner Freundin den Urlaub vermiest hat, was ich, hätte ich mich nur besser erkundigt (oder wäre ich nicht so geizig gewesen oder beides), womöglich hätte vermeiden können.
Ein besonders ergreifender Beleg dafür, wie sehr uns dieser Aspekt, den der Schuld durch Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsautonomie, zu schaffen machen kann, und zwar bis an die Belastbarkeitsgrenze, offenbart eine weitere Studie der Psychologin Sheena Iyengar.
In der Studie untersucht Iyengar das Schicksal französischer und amerikanischer Eltern, die mit einer der schmerzhaftesten Erfahrungen konfrontiert wurden, die man sich denken kann: Sie hatten ihr Baby verloren. Die Babys hatten auf Grund diverser Komplikationen keine Aussicht mehr gehabt, ein eigenständiges Leben zu führen. Viele hatten durch Sauerstoffmangel einen massiven Hirnschaden erlitten, andere hatten unheilbare Atmungsprobleme. Sie alle konnten nur noch mit Hilfe moderner Apparate-Medizin am Leben bleiben, und die Ärzte hatten mit den Eltern über die Option gesprochen, diese Apparate auszuschalten und keine weiteren, lebenserhaltenden Eingriffe mehr vorzunehmen.
In den USA ist es in einer solchen Situation üblich, die Entscheidung ganz den Eltern zu überlassen. Die Ärzte fragen die Eltern, ob sie die Behandlung fortsetzen sollen oder nicht, und folgen dann auch dem Willen der Eltern. In Frankreich ist das anders: Dort treffen in erster Linie die Ärzte eine solche Entscheidung, getan wird in der Regel, was sie befürworten, es sei denn, die Eltern erheben dagegen ausdrücklichen Einspruch. Wie sich herausstellt, hat diese unterschiedliche Handhabung großen Einfluss darauf, wie die Eltern mit ihrem Schicksalsschlag fertig werden.
Zweifellos litten alle Eltern auch Monate später noch unter ihrem Verlust. Allerdings war es so, dass die amerikanischen Eltern weitaus mehr mit der Situation haderten als die französischen. Viele der Franzosen empfanden die Entscheidung, ihr Kind aufzugeben, als etwas, das unvermeidbar gewesen war. Vor allem: Keiner von ihnen gab sich selbst oder den Ärzten die Schuld.
Bei den amerikanischen Eltern war genau das nicht selten der Fall. Eine Frau, die ihren Sohn verloren hatte, konnte die Tatsache nicht verschmerzen, dass sie es gewesen war, die die Entscheidung über Leben und Tod hatte treffen müssen: »Ich hatte das Gefühl, ich sei Teil einer Exekution«, urteilte sie noch Monate nach dem Geschehen. »Ich hätte das nicht tun sollen.« [22]
Die Erfahrung, die sie und die anderen Eltern durchgemacht haben, ist natürlich extrem und in vieler Hinsicht nicht mit den Problemen und Problemchen, mit denen wir im Alltag konfrontiert werden, zu vergleichen. Und doch legt vielleicht gerade dieses Extrembeispiel ein Phänomen bloß, das mittlerweile sehr wohl den Alltag von uns allen erfasst hat: Vieles, was früher noch Gottes Wille oder Schicksal
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