Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
hat, weil er im Gegensatz zum körperlichen Hunger keinen absoluten Sättigungspunkt kennt, bereits im Keim zu ersticken, mit Hilfe ihrer Religion und ihren zahlreichen Verboten. Um es mit einer Metapher auszudrücken: Das amische Leben gleicht einer Party, auf der es verboten ist, allzu laut zu sprechen. In der Folge geht es dort ziemlich ruhig und unspektakulär zu, ohne Höhen und Tiefen, vielleicht auch ein bisschen öde (manche würden sagen: das ist ja gar keine Party), aber am Ende des Abends hat auch keiner eine heisere Stimme.
Unsere Gesellschaft kennt ein solches Verbot nicht, bei uns bekommt derjenige, der am lautesten schreit, die größte Aufmerksamkeit. Früher oder später fängt also irgendeiner an, die Stimme zu erheben, womit er sich etwas mehr Aufmerksamkeit verschafft und was dazu führt, dass sich seine unmittelbaren Nachbarn akustisch nicht mehr ganz so gut verstehen können. Die Nachbarn sehen sich gezwungen, ihrerseits etwas lauter zu sprechen, und so steigert sich der Pegel der Party nach und nach, bis irgendwann alle schreien, was teils lebhaft, teils anstrengend ist und bei dem einen oder anderen unweigerlich dazu führt, dass die Stimme versagt. [110]
Aus Sicht der Natur ist der Kampf um eine möglichst hohe gesellschaftliche Position kein reiner Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck des Überlebens und Sichvermehrens. Aus dieser rein biologischen Perspektive hat man seinen »evolutionären Auftrag« zumindest zum Teil erfüllt, wenn man einen Partner gefunden und eine Familie gegründet hat, was von der Natur denn auch mit guten Gefühlen belohnt wird.
Doch auch jenseits dieser biologischen Sichtweise stellt eine Familie für viele eine Relativierung ihres Egotrips und des rastlosen Jagens nach Anerkennung in der großen Welt da draußen dar. Zu der Anerkennung, die wir über die Arbeit erfahren, gesellt sich nun jene, die wir von unserer Familie bekommen und die etwas Absolutes hat: In der Familie ist jeder von uns ein kleiner Star, hier bekommt jeder, egal, ob Chef oder nicht, egal, ob Fußballstar oder nicht, ein gewisses Maß an ungeteilter Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Das ist in der großen Karrierewelt da draußen anders, wo jene Menschen die höchste Aufmerksamkeit und Anerkennung genießen, die ganz oben sind. Da aber die Spitze per definitionem nur aus einer Handvoll Privilegierter bestehen kann, wird der große Rest in dieser Welt immer relativ arm dran sein. Die Plätze an der Spitze werden stets knapp sein, in jeder Gesellschaft. Egal, wie reich und erfolgreich wir als Gesellschaft insgesamt werden, es kann immer nur einen Bill Gates geben, ebenso wie es immer nur eine Handvoll Präsidenten, Topmodels, Film- und Fußballstars und Nobelpreisträger geben kann.
Je mehr wir also unser Glück in die Hände der Geld- und Karrierewelt legen und dieser Welt alles andere unterordnen, desto mehr begeben wir uns in einen Kampf, bei dem immer nur einige Auserwählte eine Aussicht auf den Jackpot haben. Die allermeisten werden in dieser Welt zu den relativen Aufmerksamkeits- und Anerkennungsverlierern gehören, womit wir beim dritten Teil dieses Buchs wären, in dem wir uns unter anderem etwas genauer ansehen werden, was unsere Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung in der öffentlichen Welt mit uns macht und wie sie uns, als eine von mehreren Unruhestiftern, zu einem weitverbreiteten modernen Laster verdammt: zu ewiger Rastlosigkeit.
Dritter Teil
Wir rastlosen Stadtneurotiker
1.
Wie die Unruhe in unser Leben trat
Der moderne Mensch: Frei, wohlhabend –
und gestresst
Müsste man eine Karikatur des Menschen der modernen, westlichen Welt zeichnen, man würde vermutlich schon ein recht erkennbares Bild hinbekommen, beschriebe man ihn als Stadtneurotiker, auf den die zentralen Überlegungen aus den letzten beiden Buchteilen zutreffen. Erstens: Der moderne Zeitgenosse ist relativ unabhängig und frei. Sein Problem besteht weniger darin, dass man ihm vorschreibt, wofür er sich entscheiden und was er mit seinem Leben tun soll, sondern eher darin, dass er nicht immer genau weiß, was er wollen soll. Oft zweifelt er an seinen Entschlüssen, häufig scheut er davor zurück, sich festzulegen. Zweitens: Er nagt nicht am Hungertuch, er hat ein Dach über dem Kopf, rein materiell ist er – sowohl im globalen als auch im historischen Vergleich – nicht arm dran. Trotzdem ist da dieser Hang zur Unzufriedenheit, als würde ihm, so viel er auch hat und erreicht, stets etwas
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