Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
schimpfte, womit er in einem Wort die Schnelligkeit (velocitas im Lateinischen) mit Luzifer, dem Teufel, kurzschloss. [114]
Gut fünfzig Jahre später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, muss der Trend zum Tempo immer unübersehbarer, immer spürbarer geworden sein, und der Philosoph und Goethe-Bewunderer Nietzsche begann, einige Spekulationen über die Ursachen des Phänomens anzustellen.
Nietzsche kam zum Schluss, dass die zunehmende Eile ein grippeartiges Umsichgreifen des American Way of Life darstelle. In einem seiner Aphorismen spottete der Philosoph über die »Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten«. In der »atemlose[n] Hast der Arbeit« sah Nietzsche sogar »das eigentliche Laster der Neuen Welt«, ein Laster, das begonnen habe, »durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüberzubreiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas ›versäumen könnte‹«.
Da ich Ihre kostbare Zeit nicht verschwenden will, überschlage ich hier den Rest von Nietzsches allzu ausschweifendem Aphorismus und springe gleich zu dessen Ende: »Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite«, schreibt Nietzsche dort. »Der Hang zur Freude nennt sich bereits ›Bedürfnis der Erholung‹ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. ›Man ist es seiner Gesundheit schuldig‹ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. […] Ehedem war es umgekehrt: Die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, dass er etwas Verächtliches tue – das ›Tun‹ selber war etwas Verächtliches.« [115]
Nietzsche scheint unter anderem auf die alten Griechen anzuspielen, für die – etwa für Aristoteles – das »kontemplative« Leben, das Denken und die Muße das höchste der Gefühle darstellten, die reine Glückseligkeit. Arbeit, bei der man sich die Hände schmutzig machen muss? Das, in der Tat, galt als Sklavensache.
Heutzutage ist es eher andersherum. Nicht, dass das Händeschmutzigmachen inzwischen sonderlich beliebt geworden ist, das nicht, dafür jedoch genießt das Beschäftigtsein höchste allgemeine Wertschätzung: Je mehr einer zu tun hat, je gestresster er ist oder wirkt und je lückenloser sein Terminkalender ausfällt, desto wichtiger erscheint er uns.
Aber warum eigentlich? Wie kam es zu dieser folgenreichen Umwertung? Wie gelangte die Rastlosigkeit zu diesem bemerkenswerten Ansehen? Und weshalb legen wir uns bei fast ununterbrochener Geschäftigkeit abends mit dem absurden Gefühl ins Bett, den Tag mal wieder nicht ausreichend »genutzt« und nicht genug getan zu haben – mit einem Gefühl chronischer Unzufriedenheit also?
Wie wir sehen werden, sind es nicht zuletzt unsere Freiheit und unser Wohlstand, die zu unserer Unruhe und Eile beitragen. Diese Vermutung passt, wie mir scheint, auch zu Nietzsches Einsicht, die allgemeine Tätigkeitswut als »Laster der Neuen Welt« aufzufassen. Was kennzeichnet die Neue Welt? Was sind, außer Cowboys und Hamburger, die hervorstechendsten Charakteristika von Amerika? Freiheit und Wohlstand gehören ganz zentral dazu. Wo auf dieser Welt wird das Ideal der Freiheit am demonstrativsten zelebriert, und wo war in den letzten Jahrzehnten und ist nach wie vor der Wohlstand mit am allerhöchsten? Eben, in den USA. Freiheit (vielleicht noch wichtiger: das Ideal der Freiheit), Geld und Rastlosigkeit bilden eine zusammenhängende Troika der westlichen Welt.
Dabei konfrontiert uns das Phänomen der Rastlosigkeit als Folge von Freiheit und Wohlstand abermals mit einem Paradox des modernen Lebensstils. Denn müsste man nicht erwarten, dass es sich mit alledem genau umgekehrt verhält? Dass Freiheit und Wohlstand uns eher beruhigen und gelassen stimmen sollten, statt uns zur Dauerhektik anzutreiben?
Die Ruhelosen sind die Adligen unserer Zeit
Unruhestifter Nr.1: Die Freiheit. Die Gesellschaft des mittelalterlichen Europas bestand, um etwas weiter zurückzugehen, im Großen und Ganzen aus einer starren hierarchischen Ordnung, die sich bis ins 18. Jahrhundert hineinzog (eine der Hauptfolgen der Französischen Revolution am Ende des
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