Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
vielen Wahlmöglichkeiten und dem Wohlstand bzw. der Dominanz des Geldes zeichnet sich unsere Gesellschaft noch durch einen weiteren Unruhestifter aus, der für mich zu den schmerzlichsten gehört. Vielleicht nähert man sich diesem Unruhestifter am besten über die Geschichte von Roseto.
Wer von New York City eine gute Stunde landeinwärts fährt, in Richtung Wilder Westen, findet sich nach und nach in einer hügeligen Schieferbruchgegend im US-Staat Pennsylvania wieder, und irgendwo inmitten dieser Hügel versteckt sich auch eine recht unscheinbare, doch zugleich recht idyllische Siedlung mit dem klangvollen Namen Roseto.
Drehen wir die Uhr ein paar Jahrzehnte zurück, wird es noch eine Spur idyllischer. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte man in den Straßen und Gassen Rosetos weitgehend unter sich. Die Welt kannte Roseto nicht, und umgekehrt: Die rund 1600 Rosetani waren zu über 95 Prozent italienisch, die Leute pflegten ihre Traditionen und nahmen nur wenig Notiz von der Außenwelt. Die Frauen arbeiteten in kleinen Textilwerkstätten, nähten Blusen und Hemden, die Männer schufteten in den Schiefersteinbrüchen oder in benachbarten Stahlfabriken. Sonntags ging man in die Kirche, außerdem gab es regelmäßige Straßenumzüge und Gemeindefeste. Insgesamt war Roseto ein ausgesprochen gemütliches Dorf, und damit ein Dorf, wie es sie zu Tausenden gibt, nichts allzu Besonderes.
Obwohl, eine Sache gab es da doch, die etwas sonderbar war – und dass Stewart Wolf, ein Universitätsarzt, durch den Roseto weltweit bekannt werden sollte, davon erfuhr, war purer Zufall.
Stewart Wolf war Mediziner an der Universität von Oklahoma, die nördlich von Texas liegt, mehr als 2000 Kilometer von Roseto entfernt. Ende der 1950er Jahre verbrachte Wolf seine Sommerferien auf seinem Bauernhof in der Nähe Rosetos, als ihn dort eines Abends ein Kollege aus der Gegend zum Essen einlud und ihm bei einem Glas Bier etwas mitteilte, das Stewart Wolf aufhorchen ließ. »Ich praktiziere seit 17 Jahren in dieser Gegend«, erzählte der Kollege. »Meine Patienten kommen aus der ganzen Region, aber in Roseto habe ich kaum jemanden unter 65 mit einer Herzerkrankung.«
Keine Herzerkrankungen? Der Universitätsmediziner Wolf staunte nicht schlecht. Entweder der gute Kollege vom Lande war ein bisschen gaga, oder er hatte ihm gerade beiläufig ein kleines medizinisches Wunder offenbart. »Man schrieb die Fünfziger Jahre, cholesterinsenkende Mittel und Vorbeugungsmaßnahmen gegen Herzerkrankungen waren weit und breit noch nicht in Sicht«, schreibt der amerikanische Wissenschaftsautor Malcolm Gladwell über Roseto. McFit & Co. mussten ebenso noch erfunden werden wie die allgegenwärtige Kultur des Joggens. Damals durfte man sogar in den USA noch rauchen, ohne damit gegen alle guten Sitten zu verstoßen. Übergewicht war bereits ein Problem. »In den Vereinigten Staaten waren Herzinfarkte eine Volkskrankheit und die häufigste Todesursache für Männer unter 65 Jahren. Für einen Arzt war es damals nahezu unmöglich, nicht mit Herzkrankheiten zu tun zu haben.« [120] Der gute Kollege musste sich ganz offensichtlich geirrt haben.
Oder etwa nicht? Wolfs Neugierde war geweckt, die Sache reizte ihn, und er beschloss, dem angeblichen Wunder von Roseto auf den Grund zu gehen. Zurück an der Uni, trommelte er ein kleines Team zusammen und rückte damit nicht nur Roseto zu Leibe, sondern – sozusagen als Kontrollgruppe – auch gleich mehreren Nachbarorten, darunter das unmittelbar an Roseto angrenzende Dorf Bangor. Wolf und seine Gehilfen sammelten die Totenscheine der ehemaligen Einwohner, besuchten die örtlichen Hospitäler, studierten die Krankenakten, kontaktierten die Hausärzte der Verstorbenen, um so in minutiöser Kleinarbeit die Herzinfarktrate der vergangenen Jahre zu rekonstruieren. [121]
Und obwohl er es anfangs nicht hatte glauben mögen, nach Monaten des Sammelns und Auswertens der Daten hatte Stewart Wolf es schwarz auf weiß. Die Zahlen sprachen eine unmissverständliche Sprache, und sie sagten in ihrer nüchternen Art etwas sehr Ähnliches wie der Kollege vom Lande: Die Herzinfarktrate der Rosetani war tatsächlich verblüffend niedrig, sie war um mehr als die Hälfte geringer als im benachbarten Bangor – einem Kleinstädtchen, dessen Einwohner nota bene auf dieselben Ärzte und Krankenhäuser zurückgriffen wie die Rosetani.
Nun stammten praktisch alle Einwohner Rosetos ab von einem Grüppchen
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