Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
Ausschöpfungsgrad an Weltoptionen«, stellt Rosa treffend fest. »Wer noch schneller lebt, kann dann gewissermaßen eine Vielzahl von Lebenspensen in einer einzigen Lebensspanne realisieren und sich deren Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten erschließen – es ist unschwer zu sehen, wie hier der Horizont eines ›ewigen Lebens‹ zurückgewonnen wird durch die Imagination unbegrenzter Beschleunigung. Wer unendlich schnell wird, braucht den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten ; es liegen unendlich viele ›Lebenspensen‹ zwischen ihm und dessen Eintreten.« [118]
Unsere effiziente Arbeits- und Lebensweise verschärft dabei unsere Notlage eher noch, als dass sie sie entschärfen würde: Wir rasen mit dem Auto ins Büro, um keine Zeit zu verlieren, nur um abends die fehlende Bewegung auf dem Laufband im Fitnessstudio nachzuholen. Hinzu kommen weitere moderne Unruhestifter, wie eine hohe Mobilität (viele arbeiten und wohnen woanders) sowie unser ausgeprägter Individualismus (fast jeder will etwas anderes tun, will sein eigenes Ding machen, mit der Folge, dass gemeinsame Aktivitäten wiederum eigens geplant werden müssen und ihren ganz eigenen Platz im Terminkalender beanspruchen).
Das Gesamtresultat sieht so aus, dass viele von uns unter einem To-do-Stau leiden, der nicht daher rührt, dass wir wenig tun würden, die meisten von uns tun vielmehr enorm viel. Trotzdem schieben wir diesen Turm unerledigter Angelegenheiten vor uns her, der sich nicht abzubauen scheint, aus dem einfachen Grund, weil es heutzutage so viele Sachen gibt, die wir tun könnten, gerne tun würden oder tun »müssten«. Allgemein formuliert ergibt sich unser Ausmaß an innerer Unruhe somit nicht daraus, wie viel wir absolut machen. Stattdessen muss man die Dinge, die wir tun, ins Verhältnis setzen zur Gesamtzahl an Aktivitäten, denen wir nachgehen können/wollen.
Sagen wir, ein typischer Bauer (oder Adliger) im Mittelalter hatte täglich vier, fünf Sachen zu erledigen, und meist schaffte er es auch, diese Sachen vor Sonnenuntergang zu tun. Es gab weder Fernseher noch Fitnessstudios, noch Webseiten oder irgendwelche elektronischen Kommunikationsmittel, die seine Zeit forderten. Er verpasste also nichts. Die Familie und Freunde wohnten in der Nähe, da musste er nicht eigens hinreisen, die sah er ohnehin ständig. Wenn unser Bauer von den fünf zu erledigenden Dingen vier hinbekam, dann betrug, wenn er sich abends ins Bett legte, sein Grad an innerer Unruhe auf einer Skala von 0 bis 10 der obigen Formel gemäß: 10 – (4/5x10) = 2. Zwei!
Von einem derart beneidenswert entspannenden Unruhequotienten können die meisten von uns heute nur träumen. Fast jeder von uns tut an einem Durchschnittstag erheblich mehr als unser gemächlicher Freund im Mittelalter, wir hetzen von einer Sache zur nächsten und schaffen auf diese Weise mindestens zehn Sachen täglich (nach der Arbeit noch schnell ins Fitnessstudio oder die entfernt wohnende Freundin treffen, TV-Serie nicht verpassen, Facebook, E-Mails checken etc.). Demgegenüber jedoch stehen mindestens 100 Sachen, die wir tun könnten, gerne tun würden oder tun müssten (Familie besuchen oder wenigstens anrufen, Auto endlich mal saubermachen und zur Werkstatt bringen, Tauchkurs buchen, die neue Renaissance-Ausstellung angucken, die Neuerscheinungen vom S. Fischer Verlag lesen …), womit wir am Ende des Tages auf einen sagenhaften Unruhequotienten von 9 kommen: Wir sind weitaus beschäftigter als unser Mensch im Mittelalter und legen uns doch allabendlich mit dem Gefühl ins Bett, wir hätten mal wieder nichts gebacken gekriegt. Wie soll man da je einschlafen können?
Unruhestifter Nr.3: Zeit = Geld. Es ist natürlich – neben der grundsätzlichen Freiheit – vor allem der Wohlstand, der uns diese vielen Möglichkeiten erst eröffnet. Wohlstand schafft Angebote. Wohlstand heißt ja nichts anderes, als dass sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung Fernseher, Fitnessstudiobesuche, Fernreisen etc. leisten kann.
Darüber hinaus aber trägt die Dominanz des Geldes in unserer Gesellschaft wahrscheinlich noch auf andere, spezifischere Weise ihr Quäntchen zur allgemeinen Tätigkeitswut und Unruhe bei: Mit Geld wird die Vorstellung, dass man Zeit »verschwenden« oder »wegwerfen« kann, schließlich fassbarer denn je zuvor, und zwar in Form von Alternativkosten, die man zahlt und die in diesem Fall buchstäblich zu verstehen sind.
Keiner hat diesen Zusammenhang
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