Ich weiß nicht, was ich wollen soll: Warum wir uns so schwer entscheiden können und und wo das Glück zu finden ist (German Edition)
jene des Nachbardorfs Bangor. [126]
Suche: Liebe, biete: Leistung
»Wie viele Aufsätze muss ich schreiben,
um geliebt zu werden?« Oder: »Wie viele Flugmeilen
muss ich pro Jahr absolvieren, um attraktiv zu bleiben?«
Das eine hat jeweils mit dem anderen nichts zu tun
und ist sicher auch etwas überpointiert.
Aber genau in diesem Missverhältnis liegt das Problem.
Miriam Meckel, einst Deutschlands jüngste Professorin, über ihren Burn-out [127]
Vielleicht gibt mir die Öffentlichkeit etwas,
was ich als Kind nicht hatte: Aufmerksamkeit, Liebe.
Charlotte Roche [128]
Unruhe erwächst nicht nur aus Freiheit, vielen Lebensoptionen und Wohlstand. Sie wird auch dann in uns geweckt und gesteigert, wenn uns das Gefühl vermittelt wird, dass wir erst über den Weg der Tätigkeit und Hochleistung etwas wert sind. Was trieb die schnelllebigen Rosetani zu ihrer Schnelllebigkeit? Es fehlte ihnen etwas, etwas Entscheidendes, das, wie mir scheint, auch uns modernen Stadtneurotikern zunehmend abhandenkommt und zur Rastlosigkeit veranlasst.
Schon der erste offiziell verbuchte Rosetaner, der vor seinem 40. Lebensjahr an einem Herzinfarkt starb, war nicht nur ein sehr umtriebiger Mann, der sich selbst als nervösen Typen beschrieb, dem es grundsätzlich schwerfiel, sich zu entspannen: »Ich habe das Gefühl, Sachen erledigen zu müssen und keine Zeit verlieren zu dürfen«, erwähnte er dazu einige Zeit vor seinem Tod in einem Gespräch mit den Forschern. Der Mann fühlte sich darüber hinaus auch (oder vielmehr damit zusammenhängend) als chronischer Außenseiter im Dorf: Zwei Jahre nach seiner Hochzeit hatte er sein eigenes Unternehmen in einem benachbarten Ort gegründet – nicht in Roseto selbst, wo er keine guten Freunde hatte. Er war auch nicht Mitglied in einem der vielen Vereine des Dorfs. Die erste Firma des Mannes ging pleite, aber er gründete schon bald darauf eine neue, mit der er großen Erfolg hatte, den er dann auch auskostete: Er kaufte sich teure Autos und gab gut und gerne 1000 Dollar pro Woche aus, er lebte »wie ein König«, bis er im Alter von 39, nach einer Serie stressiger und belastender Ereignisse, einem Herzinfarkt erlag.
Der Mann war kein Einzelfall. Als die Forscher Wolf und Bruhn die Lebensgeschichten jener gestressten Rosetani, die frühzeitig an einem Herzinfarkt starben, mit den anderen im Dorf verglichen, stießen sie häufig auf ein vergleichbares Muster: Die Ruhelosen hatten sich fast immer in irgendeiner Art als Fremdkörper in der Gemeinschaft gefühlt, sie waren nicht Teil der Gemeinschaft gewesen. »Ich passe nicht in das Dorf, ich lebe nicht, wie sie leben, ich bin nicht wie die Rosetani«, sagte einer der Schnelllebigen in einem Interview fünf Jahre vor seinem Tod. Auch er beschrieb sich selbst als angespannt und nervös. Auf die Frage, ob er in seinem Leben erreicht habe, was er habe erreichen wollen, meinte er: »Nein, deshalb bin ich so nervös.« Im Alter von 41 Jahren brach der Mann zusammen.
Wolf und Bruhn haben ihre Erkenntnisse über die herzanfällige Gruppe wie folgt zusammengefasst: »Im Falle einer Krise, die einem Herzinfarkt typischerweise vorausgeht, gab es wenig oder keine Unterstützung der Familie oder Gemeinschaft, wie sie die anderen Rosetani ganz selbstverständlich genossen. Viele der Außenseiter schienen die Anerkennung und Unterstützung über den Weg der Strebsamkeit, über berufliche und finanzielle Leistung zu suchen. Wenn der Versuch, sich als Individuum hervorzutun, bedroht war oder scheiterte, konnte sich ein Gefühl der Isolation und Hilflosigkeit einstellen, man stand in den Augen seiner Mitmenschen als Versager da. Da man aber von seinen Mitmenschen als Fremder angesehen wurde, bat man nicht um Hilfe und bekam auch keine.« [129]
Was, könnte man an dieser Stelle fragen, was würde wohl geschehen, wenn sich in einer Gesellschaft nicht bloß einige wenige, sondern eine ganze Menge Leute finden würden, denen das Gefühl der Zugehörigkeit fehlt, weil es so etwas wie eine Gemeinschaft in der Gesellschaft, in der sie leben, kaum noch gibt? Was wäre, wenn es in dieser anonymen Gesellschaft außerdem kaum noch so etwas wie einen starken Familienzusammenhalt und überhaupt weniger Familien gäbe? Müssten unter diesen Umständen nicht unzählige Mitglieder dieser Gesellschaft unter einem latenten Zugehörigkeits- und Anerkennungsdefizit leiden? Wie würden diese Menschen darauf reagieren? Würden sie nicht anfangen, die
Weitere Kostenlose Bücher