Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
immer gewusst. Aber er hatte auch gespürt, dass sein Vater ihn liebte und seine neckenden Kommentare nie böse gemeint waren.
»Hey, Spargeltarzan«, konnte Herb Bronson ab und zu mit gutmütigem Zwinkern sagen, »wann legst du dir mal ein bisschen Muskelmasse zu?« Und an Weihnachten war meistens das halbe Sortiment seines Ladens unter dem Baum versammelt: Footballbälle, Schulterpolster, Baseballbälle und -schläger, Boxhandschuhe und alle möglichen Campingutensilien.
In anderen Sportarten hatte Ray sich gar nicht mal so schlecht geschlagen. Er war Mitglied in der Golfmannschaft der Highschool und ein ganz passabler Tennisspieler. Nur im Football scheiterte er kläglich. In der siebten und achten Klasse der Middleschool hatte er es noch in die B-Jugend der Schulmannschaft geschafft, da viele seiner Altersgenossen körperlich noch nicht so weit waren, aber kurz bevor er auf die Highschool wechselte, war er mit einem Mal von kräftig gebauten Muskelpaketen umgeben gewesen.
Nicht dass seine Mitschüler sich je über ihn lustig gemacht hätten. Die meisten von ihnen kannten den Treter vom Hörensagen. Und wenn Ray ihnen körperlich auch unterlegen war, machte er das mit seiner Intelligenz spielend wieder wett. Dafür respektierten ihn die anderen. Weil er der geborene Lehrer war, konnte er ihnen außerdem oft bei Schulproblemen helfen, und so kam es, dass er, obwohl er selbst kein herausragender Athlet war, mit Sportskanonen befreundet war.
Als Ray das erste Mal Barry Cox zum Abendessen mit nach Hause gebracht hatte, blieben sein Vater und Barry noch zwei Stunden danach am Tisch sitzen, tranken Milch und erörterten die Spiele aus Herbs Karriere und die, die Barry bereits bestritten hatte.
»Smarter Bursche, dieser Barry«, hatte Mr Bronson gesagt, nachdem Barry nach Hause gegangen war. »Der wird es noch weit bringen. Ist er ein guter Freund von dir, Spargeltarzan? Verbringt ihr viel Zeit miteinander?«
Als Ray die Frage bejaht hatte, hatte sein Vater beifällig genickt. »Gefällt mir, dass du solche Freunde hast.« Und als er ein paar Monate später mit Julie zusammenkam, reagierte er ganz ähnlich.
»Hast dir also eine Cheerleaderin geangelt, was? Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm! Zu meiner Zeit waren das die begehrtesten Mädchen der Schule, und es brauchte schon einen echten Kerl, um eines von diesen süßen Häschen rumzukriegen.«
Julie war mehr gewesen als das. Viel mehr. Aber das hatte er seinem Vater nicht gesagt. Er hatte lediglich grinsend eine Braue hochgezogen und lässig mit den Achseln gezuckt, worauf sein Vater ihn kumpelhaft in den Oberarm geboxt hatte. Natürlich war es ein bisschen enttäuschend, einen Sohn zu haben, dessen Füße zu klein waren, um in die eigenen Fußstapfen zu passen, aber der Treter wusste, dass Ray in allem, was er tat, sein Bestes gab, und dafür respektierte er ihn.
Das war der Raymond Bronson von vor einem Jahr gewesen. Wenn Ray sich manchmal rückblickend selbst betrachtete, hatte er das Gefühl, einen fremden Menschen vor sich zu haben.
Mich gab es gar nicht, dachte er. Ich war nicht echt. Eine schlechte Kopie von Dad und Barry, denen ich blind nacheiferte, ohne auch nur annähernd an einen von beiden ranzukommen, und ohne zu wissen, wer ich stattdessen sein sollte oder wollte. Ich habe keine Ahnung, was Julie damals in mir gesehen hat.
Aber irgendetwas hatte sie gesehen.
»Ich liebe dich«, hatte sie einmal gesagt. Nur ein einziges Mal. Ihre Beziehung war nicht hochromantisch gewesen, hauptsächlich war es ihnen darum gegangen, eine gute Zeit miteinander zu haben.
Bis auf dieses eine Mal, als sie an einem Sonntagnachmittag bei Julie zu Hause im Wohnzimmer auf dem Boden gesessen und Karten gespielt hatten. Da begegneten sich irgendwann ihre Blicke, und anscheinend sah sie etwas in seinem Gesicht, das etwas in ihr berührte, denn ihre Züge wurden plötzlich ganz weich, und sie sagte unvermittelt: »Ich liebe dich.«
Aber das war vorbei. Jetzt liebte sie ihn nicht mehr. Ihre Liebe war innerhalb eines einzigen Augenblicks an einem Sommerabend ausgelöscht worden – so schnell und so unwiderruflich wie das Leben des kleinen Jungen.
Barry war zu schnell gefahren, so wie er grundsätzlich zu schnell gefahren war. Aber da er ein sicherer Autofahrer war, hatte sich nie jemand darüber aufgeregt. Helen hatte an ihn geschmiegt auf dem Beifahrersitz gesessen. Wann immer Ray an diesen Moment zurückdachte, sah er, wie ihre langen Haare über die
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