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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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ihm ins Pflegeheim gefahren zu sein. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen …
    Aber so rief mich Mama nur ein paar Stunden nach meinem letzten Telefonat mit Papa auf dem Handy an: »Papa hat sich an einem Stück Apfel verschluckt und es nicht geschafft, Hilfe zu rufen oder das Apfelstückchen herauszuhusten. Er ist erstickt.« Dann legte sie auf und sprach nie wieder mit mir über Papas Tod. Und ich fühlte mich allein mit meinem unendlich großen Schmerz, meinen zermürbenden Selbstvorwürfen, mit meinem ganzen beschissenen Leben.
    Mir schießen die Tränen in die Augen, während ich ein bisschen Unkraut und trockene Blätter von seinem Grab zupfe. Würde er wohl noch leben, wenn ich an dem Tag zu ihm gefahren wäre? Hätte er diesen Apfel dann vielleicht nicht gegessen? Oder hätte ich rechtzeitig Hilfe holen können? Diese Gedanken zermürben mich. An guten Tagen glaube ich, dass es dann vielleicht am Abend passiert wäre. An Tagen wie heute fühle ich mich einfach nur schuldig.
    Als ich Schritte hinter mir höre, wische ich meine Tränen weg und drehe mich um. Eine alte Dame läuft mit einer Gießkanne an mir vorbei, nickt freundlich und schaut mich voller Mitgefühl an. Kurz flackert so ein Gefühl der Verbundenheit, des inneren Friedens und der Zuversicht in mir auf. Das tut mir gut. Meine Gedanken werden klarer, ich spüre wieder den weichen Waldboden unter meinen Füßen und fühle mich nach einer Weile stark genug, doch noch zum Pferdehof zu fahren, um wie gewohnt freundlich und zuverlässig meine Arbeit zu erledigen.
    Erst als ich am späten Abend im Bett liege, denke ich wieder an die Vernehmung am Nachmittag. Was wollte der Polizist alles wissen? Und was habe ich ihm erzählt? Dabei kommt es mir plötzlich so vor, als ob Herr Krause komisch nachgefragt hätte, warum ich so sicher wäre, dass meine Mutter Bescheid gewusst hätte? Glaubte er mir das etwa nicht? Mit stärkerem Herzklopfen gehe ich noch einmal das Gespräch durch: Gibt es womöglich Anzeichen dafür, dass er mir nicht glaubt? Eigentlich tut er doch immer so verständnisvoll und beruhigend. Ich grübele weiter, mir fällt aber nichts Auffälliges ein. Und immerhin hat er einen weiteren Termin mit mir vereinbart. Das wird er doch nicht aus Langeweile machen!
    Aber auf dem Punkt, ob ich mich denn nicht gewehrt hätte, ist er schon sehr herumgeritten. War ja auch klar! Ich hab mich ja auch nicht gewehrt. Heute wünschte ich selbst, ich hätte gekratzt, geschrien, gebissen. Und wenn er mich dafür totgeschlagen hätte – ich müsste mir wenigstens nicht diese Vorwürfe machen und anhören.
    Ich beschließe, mir solche verunsichernden Gedanken zu verbieten. Überhaupt will ich gar nicht mehr an das Ganze denken! So kann ich ja nie einschlafen.
    Aber schon explodiert der nächste Gedanke in meinem Kopf: Was meine Mutter wohl sagen wird, wenn sie davon erfährt? Sie hat mir immer vorgeworfen, dass ich es doch auch wollen würde, dass es mir doch Spaß machen würde. Dieser Gedanke ist jedes Mal wie ein Schlag in den Bauch. So ein Schwachsinn! Oder habe ich ihm etwa irgendwie gezeigt, dass ich gerne mit einem Messer bedroht und zum Sex mit einem widerlichen, viel älteren Mann gezwungen werde?
    Aber dann melden sich neue Zweifel: Möglicherweise habe ich ihn ja doch unbewusst animiert. Zum Beispiel, wenn ich nett zu ihm war, damit er nicht wieder auf meinen Bruder losging? Oder wenn ich ihn auf andere Gedanken bringen wollte, wenn er Mama auf dem Handy nicht erreichte. Bei so etwas konnte er ausflippen. Deshalb habe ich ihm dann etwas zum Trinken hingestellt oder gefragt, ob er etwas essen möchte. Kann er das falsch verstanden haben?
    Sofort schießen mir Bilder in den Kopf, mit welcher Gewalt er vorgegangen war. Beim ersten Schmerzensschrei hat er gefragt, ob ich möchte, dass meine Mutter demnächst mal die Treppe hinunterstürzt oder so. Dann habe ich die Lippen zusammengepresst und alles über mich ergehen lassen. Denn wenn ich auch noch meine Mutter verliere, bin ich ganz allein auf der Welt.
    Erst als ich erschrocken zusammenzucke, bemerke ich, dass ich schon geschlafen und geträumt habe, wie mein Stiefvater mich quält. Mein Herz rast und mir ist speiübel. Dieselbe alte Panik.
    An Schlafen ist vorerst nicht mehr zu denken. Stattdessen kleben diese ekelhaften Bilder in meinem Kopf, schütteln mich, würgen mich und verursachen überall Schmerzen. Erschöpft rappele ich mich auf und gieße mir in der Küche ein bisschen Wein ein. Nur

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