Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
»Na ja, er hat gesagt, dass es nicht gut für meine Mutter wäre, wenn ich nicht das mache, was er möchte. Außerdem, was hätte ich bitte machen sollen? Hätte ich was gesagt, er hätte doch ohnehin alles abgestritten. Und, und nur nett war er ja auch nicht immer.«
Krause: »Wie muss ich das verstehen, dass er nicht immer nett war, wie du sagst?«
Ich: »So, so wie ich es gesagt hab. Er hat ja nicht nur nett darum gebeten. Ach, egal.«
Krause: »Hat er dich auch geschlagen?«
Ich: »Meinen Sie, ich hab freiwillig mitgemacht oder wie?«
Krause: »Nein, Anna, das habe ich nicht gesagt. Und ich weiß genau, dass es so nicht ist. Aber ich muss bestimmte Dinge fragen. Und noch viel mehr wissen. Im Moment schwirren mir gerade lauter Fragezeichen im Kopf herum. Aber wir hören gleich auf für heute. Ich denke, das reicht erst einmal. Eine letzte Frage noch für heute. Versprochen. Hat deine Mutter davon die ganze Zeit über nichts mitbekommen?«
Ich: »Doch. Aber, aber sie hatte doch selber genug Probleme.«
Krause: »Bist du dir sicher, dass sie davon gewusst hat? Oder woran machst du das fest?«
Ich: »Mann! Sie haben gesagt, noch eine Frage. Lassen Sie mich doch bitte endlich in Ruhe. Bitte!«
Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 21. Juni 2011, 18:26 Uhr
Mein Anwalt sitzt während des ganzen Verhörs stocksteif neben mir und wirkt eher wie ein erschrecktes Kaninchen als wie ein starker Bär. Und der soll mir helfen? Man sieht ihm seine tiefe Betroffenheit an, als er sich schüchtern von dem Polizisten verabschiedet. Herr Krause dagegen gibt sich bei der Verabschiedung so ruhig und zuversichtlich wie immer. Einen kurzen Augenblick bin ich froh, dass er mein Ermittler ist. Er wirkt irgendwie verlässlich. Wie oft er sich wohl schon solche Geschichten anhören musste?
»Soll ich Sie nach Hause fahren?« Die Frage kommt so überraschend, dass ich fast zusammenzucke. Mein Anwalt schaut mich beinahe verzweifelt an, als er auf meine Antwort wartet. Anscheinend möchte er mir jetzt unbedingt etwas Gutes tun und es fällt ihm nichts anderes ein. »Nein danke«, lehne ich ab. Mit einem weichen Händedruck und hängenden Schultern verabschiedet er sich von mir. Und noch einmal frage ich mich, ob er wohl der richtige ist, um das alles mit mir durchzustehen? Erschöpft steige ich in mein Auto. Wohin soll ich nun fahren? Nach Hause möchte ich nicht. Was soll ich da? Ich muss erst ein wenig zur Ruhe kommen. Zu den Pferden? Da könnte ich allerdings auf Kollegen treffen und ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt stark genug bin, um meine Alles-ist-gut-Fassade aufrechtzuerhalten.
Stattdessen lenke ich den Wagen spontan eine steile Straße hinauf in ein Waldstück, ganz in der Nähe meiner alten Grundschule. Hier liegt – idyllisch unter alten, hochgewachsenen Bäumen – mein Vater auf dem Friedhof. Als ich auf dem menschenleeren Parkplatz aussteige, atme ich tief die kühle, feuchte Luft ein. Das fühlt sich gut an. Ich bin gerne hier oben, es hilft mir, wieder zu mir zu kommen. Irgendwie fühle ich mich in Papas Nähe beschützt.
Obwohl er schon so viele Jahre tot ist, fehlt er mir sehr. Ich war etwa zehn, als er gestorben ist. Damals haben wir beinahe jeden Tag miteinander telefoniert, und das, obwohl es ihm schwerfiel und ihm der Hörer regelmäßig aus der Hand rutschte, weil seine Muskeln versagten. Einmal pro Woche bin ich mit dem Bus zu ihm ins Pflegeheim gefahren.
Er freute sich immer riesig, mich zu sehen. Seine Augen strahlten warm und glücklich. Deshalb erzählte ich ihm auch nicht, was zu Hause los war. Nicht von dem Ärger, den ich bekäme, wenn Mama wüsste, dass ich ihn besuchte, nichts von den regelmäßigen Prügelattacken meines Stiefvaters oder Mamas Alkoholproblem. Er sollte sich keine Sorgen machen, schließlich konnte er eh nichts ändern. Ich wollte einfach seine Liebe und Aufmerksamkeit genießen. Obwohl ich Papas Verfall sah und das Gefühl hatte, mich um ihn kümmern zu müssen, aber nicht konnte, waren diese Ausflüge ins Pflegeheim für mich wie Kurzurlaube. Hier tankte ich Kraft.
Doch an einem Besuchs-Donnerstag war irgendetwas Besonderes im Stall los, was ich auf keinen Fall verpassen wollte. Deshalb rief ich Papa aufgeregt an, um ihm abzusagen. Er lachte in den Hörer, weil er sich so sehr mit mir freute. »Klar, mein Engel. Dann sehen wir uns in der kommenden Woche. Ich freu mich!«
Das war unser letztes Gespräch. Noch heute mache ich mir solche Vorwürfe, an diesem Tag nicht zu
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