Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
so hab ich doch selbst schuld an allem. Wahrscheinlich hab ich es sogar gewollt. Verdammt! Ich weiß es doch auch nicht … Kommissar Krause reißt mich aus meinen abschweifenden Gedanken.
Krause:»Möchtest du erzählen, wie die Fahrt war? Du kannst bei ganz kleinen Sachen anfangen: Was das für ein Tag war, wie das Wetter war, was dir so einfällt …«
Ich: »Wir sind morgens ganz früh losgefahren, ich glaube, um Viertel nach drei wurde ich geweckt. Ich bin dann auch nur aufgestanden, hab mich kurz gewaschen und meine Schlafsachen gleich anbehalten. Im Lkw hab ich mich direkt wieder hingelegt und weitergeschlafen.«
Krause: »Kannst du einmal beschreiben, wie es im Lkw aussieht? Gab es da eine Schlafkabine? Kann es mir gerade nur schwer vorstellen.«
Ich: »Ja. Also hinter den beiden Sitzen sind zwei Betten. Eins unten und eines darüber. Ich hab mich zum Schlafen auf das untere Bett gelegt. Dann haben wir irgendwann das erste Mal angehalten und gefrühstückt. Mittags haben wir noch was gegessen auf einer Raststätte und am frühen Abend sind wir dann da angekommen. Ich glaube, es war gegen halb sechs. Wir wollten da übernachten und am nächsten Morgen wieder ganz früh zurückfahren.«
Krause: »War das ein großer Rastplatz oder ein richtiger Autohof?«
Ich: »Keine Ahnung. Ein Autohof war es nicht. Schon ein großer Rastplatz direkt an der Autobahn halt. Die Parkplätze waren schon ziemlich voll mit Lkws. Wir haben so ein bisschen abseits geparkt rechts am Rand vor Büschen. Er meinte, er macht das immer. Da sei es wenigstens etwas ruhiger und zum Pinkeln müsse er nicht so weit laufen. Wir haben dann noch eine Kleinigkeit gegessen und saßen noch einen Augenblick in dem Restaurant am Tresen. Da saßen auch noch andere Lkw-Fahrer und haben zusammen ein paar Bier getrunken. Ich bin nach dem Essen direkt wieder zurückgegangen und hab noch gelesen.«
Krause: »Und dein Stiefvater ist noch dageblieben?«
Ich: »Ja. Ich, ich bin dann irgendwann eingeschlafen. Da war er noch nicht wieder da. Dann bin ich aufgewacht und dann war er da. Es kann zehn gewesen sein. Aber auch elf oder zwölf. Ich hab keine Ahnung.«
Krause: »Ich sehe, wie schwer es dir fällt, aber bitte versuche, noch weiterzuerzählen. Was ist dann passiert?«
Ich: »Er kam rein und roch schon ziemlich nach Bier oder Alkohol. Ich bin wach geworden, aber hab so getan, als ob ich ihn nicht gehört hätte. Ich weiß gar nicht, warum. Ich lag so auf der Seite mit dem Gesicht zur hinteren Wand. Ich hab darauf gewartet, dass er endlich hochgeht ins Bett. Aber irgendwie … es hat total lange gedauert und ich wusste nicht so richtig, was er da macht. Ich … ich dachte, er würde sich umziehen. Aber er, er kam zu mir. Ich hab das erst gar nicht so richtig gemerkt. Ich, ich hab sogar kurz gedacht, dass er mich vielleicht gar nicht gesehen hat und irgendwie vergessen hat, dass ich ja mit bin. Aber plötzlich hat er dann seinen Arm von hinten über mich gelegt und gesagt, dass ich ja ruhig sein soll.«
Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 21. Juni 2011, 16:59 Uhr
Ich erzähle weiter, erzähle, dass ich in diesem Moment gar nicht wusste, was da gerade geschah. Es war absolut irreal. Das konnte er doch nicht machen! Das nicht!!!
Ich fühlte, dass es nicht richtig war und dass ich es nicht wollte. Er zwang mich, ihn anzusehen, und ich sah, dass er nur noch sein Hemd trug – sonst nichts. »Wenn du nicht willst, dass deiner Mutter etwas passiert, dann machst du jetzt, was ich sage.« Seine Stimme war leise, drohend, mehr ein Knurren. Sein ganzer Körper war angespannt, es fehlte nicht viel und er würde ausrasten, das spürte ich. Seine Aggression war fühlbar, sie füllte den ganzen Raum und presste mich zusammen. Ich war starr vor Angst und Schreck. Seine Augen waren kalt und böse. Er war ein Teufel. »Wenn du etwas nicht willst, dann denk an deine Mutter«, sagte er noch einmal. Dieser Mann wusste genau, wie sehr ich an meiner Mutter hing. Ganz egal, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie war mein Lebensmittelpunkt. Trotz allem.
Während ich das erzähle, versinke ich in meinen Erinnerungen. Ich sehe nicht mehr den Polizisten, die Kamera, das Verhörzimmer. Ich nehme nicht mehr das gelegentliche Schnaufen meines Anwalts wahr. Ich bin wieder in dem Lkw mit meinem widerlichen Stiefvater. Die Gefühle, die diese Erinnerungen auslösen, drohen, mich mit sich zu reißen. Bis Kriminalkommissar Krause die Frage stellt, die ich mir selbst seit Jahren
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