Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
erinnert zu werden, nützt doch nichts.
Und so ein Armbruch – das ist doch etwas ganz anderes. Das ist was, das sieht man klar und deutlich auf dem Röntgenbild und es ist logisch, dass es behandelt werden muss. Aber das andere? Kann man sich nicht auch anstellen?«
Eintrag in ein Missbrauchs-Forum, 29. Juni 2011, 12:50 Uhr
Während des Schreibens werde ich immer wütender auf mich. Was soll das denn? So ein blödes Herumgejammere wegen etwas, das nun eh vorbei ist. Aber bevor ich mich weiter in meinen Selbsthass hereinsteigern kann, kommt die erste Antwort aus dem Forum.
»Es ist ja nicht wirklich vorbei. Also nicht im Sinne von ›verarbeitet‹. Und das wirst du so alleine nicht schaffen. Deine Seele bemüht sich ja, deshalb durchlebst du es immer wieder. Dein Gehirn möchte es wegsortieren, schafft es aber nicht. Du solltest mal bei Wikipedia über ›Trauma‹ lesen, dann verstehst du, was ich meine. Ich musste eine Traumatherapie machen, um diese Gedanken loszuwerden.«
Missbrauchs-Forum, 29. Juni 2011, 13:01 Uhr
Okay, also Wikipedia. Da steht: »Traumatisierende Ereignisse können beispielsweise Naturkatastrophen, Geiselnahme, Vergewaltigung oder Unfälle mit drohenden ernsthaften Verletzungen sein. Diese Ereignisse können in einem Menschen extremen Stress auslösen und Gefühle der Hilflosigkeit oder des Entsetzens erzeugen. Die hierdurch im Menschen hervorgerufene Angst- und Stressspannung kann bei der Mehrzahl der Betroffenen wieder von alleine abklingen. In besonderen Fällen jedoch, wenn diese erhöhte Stressspannung über längere Zeit bestehen bleibt und es keine Möglichkeit gibt, die Erlebnisse adäquat zu verarbeiten, kann es zur Ausbildung von teils intensiven psychischen Symptomen kommen.«
Das wusste ich weitgehend schon. Und auch, dass eine Traumatherapie helfen soll. Aber warum bitte schön sollte es helfen, wenn man mit einem fremden Menschen, einem Therapeuten, über das alles spricht? Es noch mal und noch mal erzählt. All diese Schmerzen noch einmal spürt. Darauf habe ich keine Lust und noch dazu glaube ich nicht daran. Das macht für mich keinen Sinn. Frustriert sitze ich am Küchentisch und starre vor mich hin.
Bevor das im Lkw passiert ist, war ich glücklich. Obwohl es auch da schon schwierig zu Hause war: Mein Stiefvater war gewalttätig, meine Mutter trank, mein Vater war verstorben. Das war alles schrecklich. Aber ich kann mich daran erinnern, dass ich tief in mir darauf vertraut habe, später einmal ein normales, glückliches Leben zu führen. Ich hatte einen starken, lebensfrohen, optimistischen Kern und träumte davon, Ärztin zu werden oder als Reiterin Karriere zu machen. Schon jetzt war ich ziemlich erfolgreich auf Turnieren.
Dementsprechend entsetzt war ich, als meine Mutter mir eines Morgens in der Küche so ganz nebenbei mitteilte: »Wir ziehen auf die andere Rheinseite in ein kleines Kaff bei Uckerath. Da sind die Mieten günstig und du kannst mit dem Schulbus in die Schule fahren und dann dort in die siebte Klasse gehen.« Das war's dazu von ihrer Seite.
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Wie bitte? Und unser Haus? Der Verlag?«
Meine Mutter winkte ab: »Das läuft doch nicht mehr. Wir müssen verkaufen.«
Wie konnte sie nur so gleichgültig sein? Fassungslos starrte ich sie an. Der Schulwechsel war schlimm, aber notfalls auszuhalten. Was mich am schlimmsten traf, war die Vorstellung, nicht mehr reiten zu können. Das wollte ich auf gar keinen Fall aufgeben! »Aber mein Stall! Der ist doch dann viel zu weit weg«, protestierte ich für meine Verhältnisse ungewohnt lautstark.
Meiner Mutter war das scheinbar egal. Schulterzuckend sagte sie: »Dann suchst du dir eben einen Bauern, der ein Pferd hat, auf dem du reiten kannst.« Und damit drehte sie sich um und ging aus dem Raum. Thema erledigt! Ohnmächtig starrte ich ihr hinterher. Sie verstand mich nicht! Sie versuchte es nicht einmal! Ich wollte nicht auf irgendein Pferd steigen. Ich wollte weiter auf top ausgebildeten Pferden reiten, zu Turnieren gehen, erfolgreich sein. Ich wollte weiter zu meinem Stall fahren!
Uckerath? Das hatte ich vorher noch nie gehört. Schnell flitzte ich in mein Zimmer und setzte mich an den Computer, um dort auf einer Karte nachzusehen, wie weit das neue Haus von meinem Stall entfernt lag: 18 Kilometer. Das war eine ordentliche Strecke! Laut Internet würde ich dafür etwa eine Stunde mit dem Fahrrad brauchen – hin und zurück also zwei Stunden. Ich dachte nach. Das war
Weitere Kostenlose Bücher