Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
anzustarren und nicht ihren liebevollen und besorgten Blick aushalten zu müssen. »Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Hast du Kummer zu Hause?«, bohrte sie ungeachtet meiner offensichtlichen Ablehnung mit sanfter Stimme weiter.
Ich starrte weiter die Wand an.
Frau Schiller ließ nicht locker: »Anna, du wirst sitzen bleiben, dabei warst du doch so eine gute Schülerin. Dafür muss es doch einen Grund geben!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Anna, ich möchte dir doch nur helfen. Was hast du?« An-die-Wand-Starren.
»Du bist so ein waches, intelligentes Mädchen. Das kann doch nicht sein!«
An-die-Wand-Starren mit Tränen in den Augen.
Frau Schiller blieb hartnäckig: »Bitte, Anna, bitte!«
Noch mehr Tränen in den Augen. Und die vage Hoffnung: Vielleicht könnte sie mir ja doch helfen und diesen Albtraum beenden?
»Soll ich dir ein Blatt Papier und einen Stift geben, damit du es aufschreibst?«, hakte sie nach und kramte schon in ihrer Tasche, um Schreibzeug auf den Tisch zu legen.
Und dann habe ich es aufgeschrieben und sie hat mich mitleidig angesehen und ihre schönen blauen Augen sahen plötzlich ganz traurig aus.
»Und was machen Sie jetzt?«, wollte ich wissen.
»Darüber muss ich erst mal nachdenken.«
Da wurde ich panisch: »Bitte machen Sie nichts!« Meine Mutter fiel mir ein. Und die Drohung meines Stiefvaters: Wenn du nicht willst, dass deiner Mutter etwas zustößt … Ich wurde beinahe hysterisch: »Bitte, Frau Schiller, sagen Sie nichts!«
Und sie streichelte über meine Schulter und tröstete mich: »Ich werde nichts machen, ohne es vorher mit dir abzusprechen, okay?«
Ich nickte erleichtert, fühlte mich aber gleichzeitig furchtbar. Ich hätte niemals mit jemandem über dieses Geheimnis sprechen dürfen! Niemals! Und jetzt kannte es meine Klassenlehrerin. Das war ein Fehler!
Kriminalkommissar Krause scheint diese Neuigkeit besonders spannend zu finden: Aufgeregt knetet er seine Hände und beugt sich mit dem Oberkörper zu mir herüber, als er weiter nach meiner Lehrerin fragt.
Krause: »Wie hat sie denn darauf reagiert? Das muss ja gewiss schockierend für sie gewesen sein, so etwas zu hören.«
Ich: »Ja, ich glaub auch. Sie meinte gleich, das kann doch nicht sein und da müssen wir was unternehmen und zur Polizei gehen. Das war aber das, was ich überhaupt nicht wollte.«
Krause:»Aus welchem Grund wolltest du das nicht?«
Ich: »Mann, ich hatte verdammte Angst. Ich hatte ja keine Ahnung, was passiert, wenn er das mitbekommt. Und wieso hätten sie mir auch glauben sollen?«
Krause: »Hat er dich denn in irgendeiner Form bedroht, dass du nichts sagen darfst?«
Ich: »Meinen Sie, er hat mir gesagt, ach, geh ruhig hausieren damit, oder wie? Klar. Er hat dauernd gesagt, dass ich dran denken soll, wie steil doch unsere Treppen sind und wie leicht da mal eine angetrunkene Frau runterfallen kann. Tragische Unfälle könnten eben immer mal passieren. Reicht das nicht?«
Krause: »Doch, ich verstehe diese Angst schon. Obwohl es da ja Mittel und Wege gibt, einen davor zu schützen. Wie ist es denn dann weitergegangen?«
Ich: »Mit meiner Lehrerin?«
Krause: »Ja, genau.«
Ich: »Sie hatte mir versprochen, nichts zu unternehmen, was ich nicht wollte. Und dann sagte sie noch, dass ich auf mich aufpassen solle und sie jederzeit anrufen könne, wenn ich es mir anders überlegen würde. Netterweise hat sie dann aber bei meiner Mutter zu Hause angerufen und ihr von unserem Gespräch erzählt.«
Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 15. Juli 2011, 10:21 Uhr
Als ich an diesem Tag damals nach Hause kam und meine Mutter am Telefon hörte, wusste ich sofort, wer dran war. »Das hat sie erzählt?«, hörte ich sie sagen und ich wünschte mir, der Boden würde aufreißen und mich verschlingen. Ich lugte vorsichtig um die Ecke. Meine Mutter stand leider nicht mit dem Rücken zur Tür, sodass sie mich sofort entdeckte. Ihr Blick war vernichtend! Selten hatte sie mich so wütend angesehen. Ich war total schockiert! Wie konnte Frau Schiller meine Mutter anrufen!? Sie hatte doch versprochen, nichts zu unternehmen. Der nächste Gedanke traf mich wie ein Faustschlag in den Magen: Frau Schiller glaubte mir nicht, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Ich fühlte mich schlagartig wie eine Marionette, deren Fäden abgeschnitten wurden. Fallen gelassen, unfähig, sich alleine zu bewegen, am Boden. Und dann kam die Panik. Was würde mein Stiefvater nun machen? Ich hörte, wie meine Mutter das
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