Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
dieselben Fragen. Vor allem die Schuldfrage.«
Eintrag in ein Missbrauchs-Forum, 1. Februar 2012, 19:41 Uhr
Seit ich Anzeige gegen meinen Stiefvater erstattet habe, denke ich oft, jetzt ist alles so schlimm, schlimmer kann es nicht werden.
Aber jetzt ist es tatsächlich noch schlimmer gekommen. Denn als würde mir die Anzeige nicht schon genug Kraft rauben, kommt nun auch noch der Selbstmordversuch meiner Mutter dazu. Obwohl sie mir sogar die Schuld an ihrem Selbstmord gibt, macht mich die Angst, sie könne tatsächlich sterben, beinahe wahnsinnig. Ich wünsche mir doch so sehr, dass wir uns aussöhnen. Irgendwann.
In dieser Nacht kann ich mal wieder nicht schlafen und fahre noch vor Sonnenaufgang in die Klinik. Natürlich könnte ich dort auch anrufen. Aber das reicht mir nicht. Ich muss sie sehen.
»Sie ist immer noch nicht bei Bewusstsein. War gerade schon da. Mache mir richtige Sorgen, obwohl ich gar nicht weiß, was ich denken soll.«
SMS an Kerry vom 2. Februar 2012, 6:47 Uhr
Und dann passiert etwas Merkwürdiges. Da meine Mutter nicht ablehnend reagieren kann, wenn ich sie besuche, fällt es mir leicht, mich um sie zu kümmern, und ich kann die besorgte Tochter einer bemitleidenswerten Mutter spielen. Es ist ein – zumindest der Lage entsprechend – normaler Mutter-Tochter-Umgang möglich. Ich kann sogar ihre Hand streicheln. Ich kann ihr so nah sein wie lange nicht mehr. Was für eine verrückte Situation!
Sogar als sie wieder aus dem Dämmerschlaf erwacht, bleibt unser Umgang vergleichsweise liebevoll. Kerry halte ich per SMS permanent auf dem Laufenden:
»Sie ignoriert mich total. Liegt da und sagt nichts und zeigt auch keine Reaktion. Das tut irgendwie verdammt weh.«
SMS an Kerry vom 4. Februar 2012, 6:41 Uhr
»Meiner Mutter geht es nicht gut. Sie will einfach nichts trinken oder zu sich nehmen. Könnte sie dafür hassen. Die Ärzte können bzw. dürfen nichts machen, da sie eine Patientenverfügung hat. Warum auch immer. Morgen kommt die Ethikkommission zusammen, um zu entscheiden, was weiter passieren soll. Wünsche mir so sehr, dass alles gut wird. So komisch es klingen mag.«
SMS an Kerry vom 6. Februar 2012, 20:35 Uhr
»Ich kann es gar nicht sagen, was die Ethikkommission genau bewirken kann. Wahrscheinlich gar nichts, weil die Patientenverfügung ja vorhanden ist. Noch hoffe ich wirklich, dass sie sich irgendwie wieder besinnt. Das ist ja nicht normal. Und ich finde es auch alles andere als fair. Habe ihr gestern einen Brief gegeben und ein Foto von ganz früher … Weiß nicht, ob sie es noch wirklich wahrgenommen hat. Der Psychologe dort auf Station hatte das so empfohlen und ich soll heute auch nicht zu ihr. Ich hoffe sehr, dass es nicht zu spät ist. Habe momentan wirklich Angst. Aber irgendwie hoffe oder denke ich noch positiv. Ich weiß auch nicht, warum …«
SMS an Kerry vom 7. Februar, 2012, 6:09 Uhr
»Die Kommission hat sich entschieden, nicht einzugreifen. Und ich war vorhin kurz da, aber nicht bei ihr drin, und da meinte der Arzt, sie hätte heute tatsächlich gefragt, ob ich nicht gekommen sei. Und sie hätte etwas getrunken. So eine totale Kleinigkeit, die mich aber trotzdem sehr berührt oder gefreut hat. Ich hoffe, es wird doch noch alles ›gut‹. Oder zumindest besser. Ach so – ich war ja mittlerweile auch zu dem Gutachten. Ich bin verhandlungsfähig. Immerhin. Weiß zwar nicht, ob ich mich drüber freuen soll. Aber wahrscheinlich ist es besser.«
SMS an Kerry vom 11. Februar 2012, 7:22 Uhr
»Guten Morgen :), gestern ist wirklich mal was Positives gewesen. Ich war bei meiner Mutter und es kam eine Reaktion. Erst guckte sie mich gar nicht wirklich an, dann guckte sie weg und dabei sagte sie, dass es ihr leidtut. Was auch immer …
Kann es aber nicht wirklich sagen, wie das gemeint war. Vielleicht meinte sie es ernst und es war ein Anfang. Vielleicht aber auch eben nicht. Weiß mitunter im Moment nicht mehr so wirklich, was ich denken soll.«
SMS an Kerry vom 15. Februar 2012, 5:38 Uhr
Ich schöpfe Hoffnung. Seit fast zwei Wochen haben wir nun unsere »der Lage entsprechend normale Mutter-Tochter-Beziehung«. Sie lehnt mich weder offen ab, noch ist sie durch den Alkohol nicht ansprechbar. Ich wünsche mir so sehr, dass ich mich weiter um meine Mutter kümmern kann und wir dadurch wieder zueinanderfinden.
Mittlerweile ist klar, dass ich vernehmungsfähig bin, dass ich also vor Gericht eine Aussage machen muss. Plötzlich geht nach all meinen Vernehmungen der
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