Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
zu nehmen. Ohne lange darüber nachzudenken, rase ich los in Richtung Krankenhaus. Ich kann nicht denken, ich kann nur aufs Gas drücken. Dabei versuche ich, die Tränen zu unterdrücken. Was ist, wenn sie stirbt? Meine Mutter! Während der Fahrt schreibe ich meiner Freundin Kerry:
»Sie wurde von der Polizei gefunden, weil sie heute Morgen zum dritten Mal nicht zum Vernehmungstermin erschienen ist. Wusste das überhaupt nicht und fühle mich total scheiße und schuldig. Scheint ja meine Schuld zu sein. Sorry. Kann gerade nicht klar denken und schreiben. Muss da erst mal hin. Ich habe wirklich Angst, was mich erwartet.«
SMS an Kerry vom 1. Februar 2012, 8:34 Uhr
Im Auto fühlt sich die Zeit, mein Leben und alles an wie eine zähe, klebrige Masse. Ich kann mich kaum bewegen, schon das Aussteigen – allein der Entschluss auszusteigen – kostet unglaublich viel Kraft. Aber sobald die kalte Winterluft um meine Nase weht, ist diese Schwere wie weggeblasen. Den Weg zum Haupteingang renne ich beinahe. An der Information erfahre ich, dass meine Mutter auf der Intensivstation liegt. Oh nein! Dann geht es bei ihr wirklich um Leben und Tod. Ich habe Angst, meine Mutter zu verlieren. Bitte nicht!
Bevor ich die Station betreten kann, muss ich mich bei einer Schwester vorstellen: »Ich bin die Tochter von Frau H.« Die Schwester nickt betroffen und führt mich zum Zimmer meiner Mutter. Sie ist an unzählige Maschinen angeschlossen und nicht ansprechbar. In dem weißen Krankenhausbett, umgeben von der vielen Technik, sieht sie noch mickriger aus als bei unserem letzten Treffen an Weihnachten. Nur ihr Gesicht wirkt beinahe entspannt. Es ist schrecklich, sie so zu sehen.
Ich frage die Schwester, ob ich den Arzt sprechen dürfte. Der erzählt mir wenig später: »Wir haben ihren Magen ausgepumpt. Es ist nicht ganz klar, was sie genommen hat und wann sie es genommen hat. Aber sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
Erstaunt sehe ich den Mann an. Einen Abschiedsbrief? Dann hat sie ihren Tod so richtig geplant. Ich schaue noch einmal zu dem leblosen Körper, der meiner Mutter gehört. Der Frau, die immer so fröhlich war, wenn wir unsere Mädels-Nachmittage miteinander verbracht haben … Sie wollte also sterben.
Weil sie als Mutter versagt hat? Oder weil ihr geliebter Mann in U-Haft sitzt?
Ein bisschen fürchte ich mich davor, den Brief zu lesen. Ein bisschen hoffe ich, dass sie schreibt, wie leid ihr alles tut. Auch wenn mir mein Bauchgefühl schon entgegenbrüllt, dass ich das wohl kaum erwarten kann. Dementsprechend schlecht ist mir, als ich den Umschlag öffne. Und vielleicht hätte ich ihn niemals öffnen sollen – ihr Abschiedsbrief ist ein Albtraum. Ein absoluter Albtraum. Sie hätte sich ja durchaus Selbstvorwürfe machen können, was sie für eine schlechte Mutter gewesen ist, dass sie meinen Bruder und mich nicht beschützt hat. Aber nichts dergleichen! Stattdessen gibt sie mir die Schuld an ihrem Tod, »weil ich diese alten Kamellen ausgegraben habe«. Ich sei ja schließlich »nicht unbeteiligt gewesen«. Im Übrigen könne sie mir »nie verzeihen, dass ich ihren Mann ins Gefängnis gebracht habe«.
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen und kann erst mal gar nichts mehr sagen oder denken. Entsetzt starre ich auf das Blatt Papier in meinen Händen. Hasst mich meine Mutter so sehr, dass sie mir das antut? Wie in Trance schleiche ich aus dem Krankenhaus und fahre nach Hause.
Obwohl sie nun wirklich nichts (oder nicht viel) zu meinem Schutz getan hat, habe ich immer noch das Gefühl, meine Mutter beschützen zu müssen. Sie tut mir leid. Ich finde das alles total traurig. Dabei sollte ich doch eigentlich inzwischen gelernt haben, damit umzugehen! Schuld an allem ist diese blöde Anzeige! Als ich am Abend noch einmal in der Klinik anrufe, erfahre ich, dass meine Mutter noch immer nicht wach geworden ist.
Ins Forum schreibe ich:
»Habe im Moment irgendwie nicht so eine gute Zeit. Hasse mich dafür, dass ich nicht stärker bin, aber ich komme da nicht gegen an. Ich weiß nicht, warum … :-/
Ich habe im Moment das Gefühl, durch die Hölle zu gehen. Und frage mich, wofür ich das Ganze tue? Um andere zu schützen? Und am Ende kommt da eine Strafe raus, die vielleicht alles andere als zufriedenstellend ist? Von Gerechtigkeit möchte ich überhaupt gar nicht sprechen. Dieser Mensch hat mein Leben ziemlich zerstört. Was sind dann schon ein paar Jahre Gefängnis? Und was passiert hinterher?Stelle mir immer wieder
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