Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
Vom Netzwerk:
Aber den sollte man doch erhalten!
    Deshalb gebe ich mir wirklich Mühe bei der Planung unseres Festes. Das erste Wehnachtsfest ohne ihn! Wie befreiend!!! Ich plane, was ich Leckeres zu essen einkaufen will. Lachs, Kartoffeln und Gemüse, weil ich weiß, dass sie das gerne mag. Und ich besorge ihr ein paar Kleinigkeiten als Geschenke: Parfüm und eine passende Bodylotion – über solche Dinge hat sie sich früher am meisten gefreut, früher, als sie noch eine gepflegte, glückliche Frau war.
    Zwei Tage vor Weihnachten rufe ich bei ihr an. Mein Herz rast und es fühlt sich an, als krabbelten Tausende Fliegen aus scharfkantigem Blech in meinem Magen – alles sticht und kribbelt in mir. »Ja«, meldet sie sich.
    Und ich entnehme schon diesem einen Wort ihren beträchtlichen Alkoholpegel. »Mama, ich würde Weihnachten gerne vorbeikommen!«, sage ich mit bemüht fester Stimme.
    »Ja, dann komm doch«, antwortet sie. Und ich kann dieser Aussage weder Freude, aber auch keine Ablehnung noch sonst etwas entnehmen. Im Zweifelsfall hat sie es wohl gar nicht mitbekommen. Trotzdem spreche ich weiter: »Dann bin ich um 15 Uhr bei dir.«
    Die lasche Antwort ist ein karges »Okay«. Enttäuscht lege ich auf. Und dafür die ganze Aufregung!
    Egal. Ich bin entschlossen, uns ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten! Deshalb stehe ich zwei Tage später zur verabredeten Zeit vor ihrer Haustür, meinem alten Horror-Zuhause. Diesmal muss ich nicht nach seinem Lastwagen Ausschau halten. Ich kann sicher sein, dass er auf keinen Fall auftauchen wird. Das ist doch schon mal ein Anfang! Ich klingele. Nichts passiert. Ich klingele noch einmal. Noch immer nichts. Ich lausche an der Tür. Doch ich höre nur ihren kleinen Hund bellen – sonst nichts. Allmählich werde ich panisch. Das Klingeln könnte sie ja vielleicht überhören, aber doch nicht das Gebelle von ihrem Hund. Ich klingele wieder, diesmal beinahe Sturm … Der Hund bellt und bellt. Ich befürchte schon fast, ich müsste die Feuerwehr rufen, da höre ich schwach: »Ja, doch!« Bin ich froh! Sie lebt!
    Als sie endlich die Tür öffnet, trifft mich fast der Schlag. Sie ist noch dünner geworden, schaut noch apathischer, noch heruntergekommener aus. Offenbar habe ich sie gerade geweckt. Nachmittags um 15 Uhr! Frohe Weihnachten!, denke ich traurig und trete ein.
    Das Haus ist in einem verwahrlosten Zustand. Viel schlimmer als zu den Zeiten, in denen mein Stiefvater noch hier lebte. Ich bin schockiert. Meine Mutter wankt ins Bad und schließt die Tür hinter sich. Ich füttere erst den ausgehungerten Hund, schnappe mir dann die Leine, um mit ihm eine kleine Runde durch den Ort zu drehen. Draußen überlege ich: Vielleicht sollte ich einfach abhauen? Es wäre sicher die unkompliziertere Variante.
    Stattdessen kehre ich kurze Zeit später zurück. Meine Mutter hat sich inzwischen vor den Fernseher gesetzt. Ich räume erst ein wenig auf und bereite dann unser Weihnachtsessen vor. Dabei habe ich schon jetzt einen Kloß im Hals und gar keinen echten Appetit. Aber das will ich mir nicht anmerken lassen. Bemüht fröhlich rufe ich: »Mama, wollen wir jetzt essen?« Erst dreht sie ihren Fernseher in Richtung Esstisch, dann stellt sie ihn deutlich lauter und schließlich schlappt sie lustlos zu mir herüber und setzt sich vor ihren Teller, ohne ein Wort zu sagen. Ist echt schön, so schweigsam. Essen will sie auch nicht wirklich. Ich gehe kurz ins andere Zimmer, um etwas zu trinken zu holen. Als ich wiederkomme, liegt sie mit dem Kopf auf dem Tisch und schläft. Ein Traum von Weihnachten!
    Ich räume unser Essen weg, versorge noch einmal den Hund und gehe dann. Meine Mutter tut mir leid. Aber ich bin auch verdammt wütend, enttäuscht und traurig zugleich.
    Ich bin eigentlich fast froh, dass Weihnachten vorbei ist. Aber ich verstehe es nicht: Bis meine Mutter diesen schrecklichen Kerl kennengelernt hat, war sie völlig anders. Ich zweifele mittlerweile schon manchmal an meiner Wahrnehmung, weil ich nicht verstehe, wie man sich so verändern kann. Was könnte ich getan haben, dass sie sich so verändert hat? Und: Ist es überhaupt meine Schuld?
    Aber es ist eine unsinnige Diskussion mit mir selber. Ich kann mir zwar hundertmal die Schuld an ihrem Zustand geben. Doch irgendwie ändert es ja nichts.
    Am 1. Februar 2012 kracht der nächste Paukenschlag in mein Leben: Ein Polizist ruft mich an, um mir zu sagen, dass meine Mutter auf dem Weg ins Krankenhaus sei. Sie hat wohl versucht, sich das Leben

Weitere Kostenlose Bücher