Ich will dir glauben
die bereits verheilt sind, habe ich nach einem versteckten Gedanken gesucht, nach einer Antwort. Nichts.
»Vergani, versuchen wir doch einfach mal zu rekapitulieren, was vor diesem Spaziergang war.« Wieder einmal die Stimme von Max Nagel.
Es war kein Spaziergang im Wald, sondern eine unerlaubte Ermittlung. Und dennoch versuchen mich alle zu decken. Leugnen, mich jemals gesehen zu haben, außer im Vorübergehen im Dorf. Es ist also absolut legitim, dass eine Polizeibeamtin außerhalb ihrer Dienstzeit einen Spaziergang im Wald unternimmt. Noch dazu in dem Wald, in dem sie quasi aufgewachsen ist, in der Nähe des Ortes, wo ihre Familie eine Ferienwohnung besitzt.
»Also, bevor Sie Ihren Ausflug in den Wald angetreten haben, was ist da passiert?«, setzt der Anwalt erneut an.
»Eine kleine Gedächtnislücke habe ich da schon. Ich war zu Hause. Ich habe einen Rucksack mit allem, was ich brauchen könnte, gepackt. Ein zusätzlicher Pullover, passendes Schuhwerk. Ein Nachthemd, da ich mir nicht sicher war, ob ich am Abend nach Hause zurückkehren oder im Tal, in der Wohnung meiner Eltern, übernachten würde. Eine Taschenlampe. Nicht viel. Anschließend habe ich ein paar Telefonate erledigt und einen Kaffee zum Frühstück getrunken, und auch noch etwas Schokolade, das Ladegerät fürs Handy und meine Kamera eingesteckt. Dann bin ich los. Alleine.«
»Wieso beharren Sie immer wieder auf der Tatsache, dass Sie alleine waren?« Nagel versucht, mich aus allen Richtungen zu packen und mich durch unterschiedliche Blickwinkel aus der Reserve zu locken. Ich bin es gewohnt, mich auf einem schmalen Grat zu bewegen. Ich taste mich geschickt und vorsichtig auf Zehenspitzen voran.
»Wieso beharren Sie immer auf denselben Fragen?«, gebe ich zurück. »Ich kann es nur immer wieder sagen: Ich war alleine. Ich erinnere mich, dass ich alleine war. Vielleicht war ich auch am Abend davor alleine.«
»Ein vielleicht ist nie gut. Entweder Sie waren alleine oder nicht.«
Nagel möchte ein weiteres Mal meine Wohnung in der Via Ciro Menotti durchsuchen lassen. Zu meiner Beruhigung. Nach dem dortigen Einzug meiner Mutter ist es gut möglich, dass er von mir nicht mehr die geringste Spur findet. Offiziell weiß davon niemand. Aber Tatsache ist, dass ich sie regelrecht gezwungen habe, dort zu wohnen. So lange wie möglich. Sie hat sich nicht gesträubt. Sie hat die Möbel umgestellt und das Nötigste gekauft. Sie hat die Schränke aufgeräumt, die Seifen ausgewechselt und sich dort mit ihren Sachen eingerichtet. Das ist auch gut so. Aber was könnte Nagel jetzt noch finden, was nicht schon angefasst, umgestellt, durcheinandergebracht worden ist?
»Vergani, soweit ich verstanden habe, müssen wir, um Ihnen bei der Entscheidungsfindung zu helfen, herauskriegen, was genau Sie am Morgen des besagten Tages und am Abend zuvor gemacht haben.«
»Am Tag des Verbrechens, das meinen Sie doch mit ›besagtem Tag‹. Ich erinnere mich an fast nichts mehr. Mir fällt absolut nichts Besonderes ein. Die üblichen Sachen. Alles ganz normal.«
25
Gegensätzlicher konnten Freundinnen nicht sein. Das Gegenstück, die Schattenseite oder besser: Sonnenseite. Sie kann Dinge zum Strahlen bringen, wo sonst nie Licht hingelangt. Das ist Inga Riboldi. Leuchtend rote Haare. Zappelig wie ein junges Fohlen. Eigenwillig und ruhelos. Seit Kurzem Mutter. Sie lebt von Träumen und Kunst, der Galerie ihres Mannes. Extravagante Freunde gehen in ihrer Wohnung, die mit Gemälden und Büchern tapeziert ist, ein und aus. Mit ausreichend intelligentem Optimismus ausgestattet, geht sie die Dinge eher oberflächlich an, um, von Zeit zu Zeit, dank ei ner ungewöhnlichen Sichtweise, doch etwas tiefer einzutauchen. Maria Dolores, für die ihre Freundin so etwas wie ein Lebenselixier ist, kann ihr eine, inzwischen selten gewordene, Harmonie und einen außerordentlichen Geschmack für das Schöne nicht absprechen, von dem sie sich selbst angezogen fühlt.
Ihre Beziehung ist frei von jeglicher Konvention, sie vereint nichts weiter als eine starke Bindung. Irrational und authentisch. Auf der Basis von Vertrauen und gegenseitiger Vertrautheit, welche beiden immer wieder fruchtbare Begegnungen und Auseinandersetzungen beschert. Beide verbindet die Leidenschaft zur Sprache. Inga arbeitet als Werbetexterin und versucht schon von Berufswegen, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Wie auch Maria Dolores.
Maria Dolores: »Die Lüge ist schon zum Alltag geworden. Das sagt zumindest mein
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