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Ich will dir glauben

Ich will dir glauben

Titel: Ich will dir glauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabetta Bucciarelli
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Moment war ihr der Gedanke gekommen, er könne einen erneuten Versuch unternommen haben, ihre Vergangenheit zu erkunden.
    »Ich bin auf dem Weg zu einer Kirche. Sie würde Ihnen gefallen, glaube ich. Wenn ich oben bin, melde ich mich noch mal, dann kann ich sie Ihnen beschreiben.«
    »Dann warte ich also auf Ihren Anruf.«
    Es ist elf Uhr morgens, und sie ist noch nicht angezogen. Sie steht reglos vor dem Wohnzimmerfenster. Ihr Elternhaus ist ein Ziegelgebäude mit hohen Räumen. Hier ist sie aufgewachsen, ab ihrem dritten Lebensjahr. Da war sie gerade mal einen Meter groß und konnte nur durch die Eisenstäbe des Balkongeländers hindurchspähen.
    Mit achtzehn ist sie dann ausgezogen. Hat sich ihren eigenen Blick auf die Welt geschaffen. Von hier oben war die Aussicht schon immer besser gewesen, als von jedem Riesenrad aus: die Landebahn des Militärflughafens, der Flughafen von Linate, das graue Motel »San Lorenzo«, die Ost-Umgehungsstraße, die in zwei Richtungen verläuft. Wie oft hatte sie sich in diesem Blick verloren, war mit den Augen dem Zementband gefolgt, das den Stadtrand umsäumt. Wie ein Satinband, das einen Strauß Blumen zusammenhält. Sie begreift plötzlich, dass sie einen Großteil ihres Lebens mit dem Anblick von Autobahnauffahrten und -abfahrten verbracht hat. Zufahrten auf eine Brücke, die Fahrzeuge wie eine Startrampe nach unten oder oben beförderte. Je nachdem, von wo man kam und wohin man wollte. Die Vorstellung einer fortwährenden Bewegung, einer Abgrenzung, eines Übergangs, einer schnellen Fahrt. Das Gefühl von Geschwindigkeit, das sich im Wunsch auflöst, Distanzen zu überwinden. Ein Raum, der nur für wenige Sekunden durchbrochen wird. Flugzeuge im Himmel, Autos am Boden. Nichts ruht länger als für einen kurzen Moment. Um einen kaputten Reifen zu wechseln, zu tanken, irgendwo schnell zu übernachten. Nie ist es ganz dunkel. Nie völlig still.
    Instinktiv legt sie ihre Hände um den Hals, so als wolle sie ihn stützen. Am Abend zuvor hatte sie eine Tablette eingenommen, die ihr einen langen friedlichen Schlaf beschert hatte. Ab und zu gönnte sie sich das. Das Telefon klingelt ein weiteres Mal. Sie beschließt, nicht hinzugehen. Aber das Klingeln will nicht verstummen.

29
    Nagel sagt: »Würden Sie über irgendeinen Umstand, der Sie betrifft, lügen, und man käme Ihnen auf die Schliche, würden Sie durch das Urteil für das begangene Verbrechen bestraft werden. Sie erhielten also trotz allem die Strafe, die Sie verdienten.«
    »Und für die Lüge? Würde ich nicht auch für die Lüge bestraft werden?«
    Nagel antwortet: »Eine Lüge wird nur dann geahndet, wenn sie Dritte mit einbezieht. Oder im Falle einer Verleumdung. Ist es das, was Sie wollen?«
    »Nein, das will ich nicht. Ich habe nicht gesagt, dass ich anstelle des Mannes getötet habe. Ich habe nicht allein getötet. Ich habe auch getötet. Und was mir nicht aus dem Kopf will, ist die Frage, ob ich imstande gewesen wäre, sie zu töten. Ich allein. Wenn da nicht dieser Mann gewesen wäre, der mit dem Gewehr auf mich gezielt hat.«
    Nagel ist sich da ganz sicher: »Nein. Sie standen derart unter Stress, eben wegen diesem Gewehr. Sie haben einen entscheidenden Moment lang daran geglaubt, dass dieser Mann Sie erschießen würde. Sie rührten sich nicht von der Stelle, waren wie gelähmt, unter Schock. Sie hatten das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber aus dieser Entfernung konnten Sie sich nicht hundertprozentig sicher sein. Wir beide wissen genau, dass Sie ihn kannten, aber das werden wir nicht sagen. Allerdings hat das bisher auch niemand behauptet. Sie haben zu jenem Zeitpunkt gemutmaßt, dieser Mann, der Vater eines der misshandelten Kinder, könne der Vergewaltiger sein. Vielleicht war er es ja, der Sie eine Woche zuvor in demselben Wald angegriffen hatte. Sie, Vergani, waren durcheinander und voller Angst.«
    »Und deswegen bin ich ausgerastet, als ich hinter mir eine Gestalt spürte. Ich habe also unbesonnen reagiert. Ohne die Möglichkeit, mich selbst zu stoppen oder zu kontrollieren. Wenn ich erzähle, dass es so gelaufen ist, bekäme ich vielleicht mildernde Umstände … Wie sähen denn diese mildernden Umstände aus?«
    Nagel wirkt entschlossen: »Es geht hier nicht um mildernde Umstände. Sie haben nicht aus irgendeiner sozialen Gesinnung heraus so reagiert, wie Sie reagiert haben. Oder weil Sie von einem rasenden Mob dazu getrieben wurden. Im Falle einer Verurteilung könnten Sie Strafmilderung

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