Ich will dir glauben
geltend machen wie jeder andere auch, der, wie Sie, nicht vorbestraft ist. Wir aber wollen und müssen auf Freispruch aus Notwehr plädieren.« So lautet Nagels Antwort. Das ewige Lied: Ich will Freispruch . Etwas unzufrieden schiebt er nach: »Haben Sie etwa Angst davor, freigesprochen zu werden? Oder ist Ihr Gewissen auf der Suche nach Bestrafung, koste es, was es wolle?«
Angst. Zu verlieren, nichts zu finden, sich nicht erinnern zu können. Meine einzige Angst besteht darin, das alles nicht durchzustehen. Mir selbst nicht gewachsen zu sein. Angst, wieder an meine alte Arbeit zurückzukehren. Eine Arbeit, bei der ich von anderen verlange, die Wahrheit zu sagen, aber selbst diesem Anspruch nicht gerecht werde.
30
»Hier in der Kirche gibt es ein wunderschönes Fresko. Eine mit der Sonne bekleidete Frau gebärt ein Kind, während der Mond ihr zu Füßen liegt und auf ihrem Kopf die Sterne ruhen. Außerdem ist da noch ein Engel mit einem Schwert, der den Teufel angreift, glaube ich.« Funi spricht, während er nach oben blickt. Dann geht er wieder nach draußen.
»Das wird der Erzengel Michael sein«, antwortet Maria Dolores. »Im Großen und Ganzen beneide ich Sie ja, Funi.«
»Sie sollten erstmal die Kreuze sehen. Genauso hoch wie die anderen. Beeindruckend. Die mussten ganz schön schuften, um sie aufzustellen. Wahrscheinlich würden Sie darin irgendetwas Künstlerisches sehen.«
»Spontan fallen mir da nur betende Hände ein, die aus Sand herausragen.«
»Wie bitte?«
»Nichts. Das war nur so eine Assoziation. Ich musste eben an den Künstler Cattelan denken, erinnern Sie sich noch? Der mit dem Stroh umwickelten Pferd, das von der Decke der Galerie herunterbaumelt? Der gleiche, der auch den Galgen auf der Piazza 24. Maggio aufgestellt hat, an dem Kinder aufgehängt sind?«
»Glauben Sie, er könnte das hier getan haben?«
»Das schließe ich eher aus. Ich meinte damit vielmehr, dass die Kunst manchmal aus dem Leben schöpft, bevor die Dinge überhaupt passieren. Machen Sie doch bitte ein paar Aufnahmen für mich. Sie haben mich neugierig gemacht.«
»Geht klar. Aber in unserem konkreten Fall hier sind die Dinge doch schon passiert?« Funi hält inne und sucht nach den passenden Worten.
Maria Dolores kommt ihm zuvor. »Guter Einwand.« Dann fragt sie: »Was haben Sie eigentlich mit den Kreuzen vor?«
»Die hier stehen schon seit einem knappen Monat, die anderen in San Siro werden in einigen Tagen entfernt.«
»Machen Sie auch von denen noch ein paar Fotos, bevor sie weg sind. Und schauen Sie unten, am Sockel, mal genauer hin. Vielleicht liegen da irgendwelche Gegenstände oder etwas Ähnliches.«
»Wird gemacht.« Funi grinst. Für einen kurzen Moment war sie wieder zu der alten Hauptkommissarin geworden. Energisch und mit diesem gebieterischen Ton. Die Gedanken immer bei der Arbeit. Er hatte es schon geahnt, dass es ihr besser gehen würde, wenn er sie, wenn auch nur am Rande und immer mit der gebotenen Vorsicht, in eine Ermittlung einbeziehen würde. Aber das durfte sie nicht merken.
»Ich könnte ja heute Abend bei Ihnen vorbeischauen, um Ihnen die Fotos zu zeigen, was meinen Sie? Ich werde mich erkundigen, wann die Kollegen zur Kontrolle vorbeikommen, und dann kurz mit raufgehen.«
»Einverstanden, Funi. Ich erwarte Sie.«
31
»Ich will nicht lügen. Noch mal ganz von vorn: Die Wahrheit ist, dass ich nicht glaube, aus Notwehr mit dem Messer zugestochen zu haben. Ja, diese Frau hatte sich mir genähert. Vielleicht hätte sie mich auch angegriffen, aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Genauso wenig wie ich mit Sicherheit sagen kann, dass dieser Mann aus Notwehr geschossen hat. Er hatte das Gewehr minutenlang auf mich gerichtet, mich anvisiert, um den richtigen Moment abzupassen und dann abgedrückt. Ich wusste, dass er im Wald hinter jemandem her war. Ich wusste, dass er sich selbst Gerechtigkeit verschaffen würde. ›Kennen Sie denn eine Strafe, die einer solch grausamen Tat angemessen wäre?‹, hatte er mich gefragt. Er wollte sich von dieser Fessel einfach befreien. Wollte diese Person, die sein Leben und das Leben der ganzen Dorfgemeinschaft zur Hölle gemacht hatte, ein für alle Mal aus dem Wege räumen. Das ist meine Wahrheit. Soll ich sie etwa leugnen? Oder sogar unterschlagen?«
Max Nagel: »Sie hatten damit gerechnet, der Hauptmann der Carabinieri von Aosta würde Sie maßregeln. Sie glaubten, er würde es öffentlich machen, dass Sie sich, über das gebührende Maß
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