Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Ahnung, wie sie ist«, sagt Silja. »Sie macht mich einfach neugierig, weil sie immer für sich alleine und abseits von allem ist. Und natürlich wollte ich euch ein bisschen provozieren. Es macht immer wieder Spaß, alle sprachlos zu machen.«
»Hast du keine Angst?«
»Wovor?«
»Na … wie Line zu werden«, setze ich an. »Oder, na ja, wie Line werden wirst du wohl kaum, aber du ziehst Ärger an wie ein Magnet. Und keiner will Ärger mit Emelie.«
Silja lacht. »Ich zoffe mich gern mit Emelie! Das ist super. Aber ich versteh überhaupt nicht, wieso ihr Line aufzieht. Erstens ist das einfach nur fies und zweitens viel zu einfach. Wie einen Regenwurm auf der Straße platt zu treten. Warum macht ihr das?«
Ich lasse ihre Worte sacken. Irgendwie hat sie völlig recht, und deswegen weiß ich auch nicht, wie ich ihr erklären soll, dass sie die Situation doch auch falsch einschätzt.
»Im ersten Halbjahr in der Siebten hatten wir ein Klassenfest. Davon gibt’s mehrere im Jahr, meistens organisieren Madeleine und Ellen das. Und Clara. Na ja, zu dem Klassenfest in der Siebten war Line jedenfalls auch eingeladen …«
»Gibt es Klassenfeste, zu denen nicht alle eingeladen sind?«, unterbricht Silja mich.
»Nein, natürlich nicht. Aber bei diesem Fest hatten sie Line ausdrücklich gesagt, dass sie kommen soll. Sonst werden eigentlich immer nur Zettel verteilt. Jedenfalls kam Line in einem rosa Kleid. Wir hatten sie noch nie im Kleid gesehen. Und sie hatte sich geschminkt, so, wie es eben aussieht, wenn man sich das erste Mal schminkt. Und sie hatte irgendwas Merkwürdiges mit ihren Haaren angestellt … Das war eigentlich alles nur schrecklich peinlich und sie tat mir und Tonja richtig leid. Aber was hätten wir denn tun können? Lovisa und die anderen haben sich schlapp gelacht über sie, aber Emelie nicht. Sie hat sie nur angesehen und kurz gelächelt, ganz kurz, und das war vernichtender als alles Gelächter zusammen. Line ist wie ein begossener Pudel abgezogen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Macht Emelie in unserer Klasse hat. Was sie macht, ist grundsätzlich … richtig. Sie ist cool, hübsch, selbstbewusst und schlagfertig. Sie und Sven sagen, wo’s langgeht.«
Silja scheint nachzudenken.
»Sven?«, sagt sie schließlich. »Ja, der lässt sich leicht um den Finger wickeln und in jede Richtung beeinflussen.«
Jetzt verstumme ich für ein paar Sekunden. Silja kapiert wirklich gar nichts.
»Leg dich nicht unnötig mit Emelie an«, sage ich. »Damit wirst du auch nichts ändern.«
»Glaubst du?«, sagt Silja amüsiert, als wäre alles nur ein lustiges Spiel. »Just watch me. Was hast du heute vor?«
»Heute sind Tonja und ich verabredet. Wir müssen was Wichtiges besprechen.«
»Okay, kapiert. Klingeling, Tonja’s calling!«
»Es ist nicht so, wie du glaubst. Tonja und ich waren schon immer beste Freundinnen.«
»Ja, ja«, sagt Silja. »Dann bis morgen.«
»Ja, bis morgen.«
Silja verwirrt mich. Ich weiß nicht, ob ich mich über das, was sie sagt, freuen oder ärgern soll oder ob es mich beunruhigen und mir Angst machen sollte. Zwischendurch hab ich das Gefühl, dass sie mit uns allen spielt. Weil sie sehen will, wie wir reagieren, wenn sie auf dem Brückengeländer balanciert, Emelie provoziert oder Line ihr Lipgloss gibt. Vielleicht war es auch so, als sie mit Line im Schlepptau durch die Schule gelaufen ist. Vielleicht hat sie nur so getan, als würde sie Line gar nicht bemerken, um auszutesten, wie Line und wir anderen uns dann verhalten. Das ist das Unberechenbare an Silja, dass ich mir nie sicher bin, was sie denkt oder warum sie etwas tut.
Ich ziehe meinen Frotteebademantel an und gehe ins Bad. Nach dem Duschen rufe ich Tonja an. Wenn ich sie wecke, hat sie Pech gehabt. Ich will wissen, wie es gestern gelaufen ist, und außerdem will ich mit ihr über Nils reden. Und über Silja. Glaube ich. Wenigstens über Nils. Es stimmt nicht, dass ich nach Tonjas Pfeife tanze. Wir sind beste Freundinnen, gleichberechtigt, ich bin genauso wichtig für sie wie sie für mich. Das muss ich ja wohl besser wissen als Silja.
Unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche denke ich an Nils’ Lächeln zwischen seinen Touren zu den Tischen, seine olivbraune Haut in der Restaurantbeleuchtung und seine dunklen Augen. Und an die leichte Umarmung, als ich mich verabschiedet habe.
Als ich mir das Haar vor dem Spiegel trocken rubbele, frage ich mich plötzlich, wieso Nils eigentlich Nils heißt. Wieso
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