Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
und schüttele den Kopf. Nils geht zu einem kleinen Handwaschbecken, über dem ein Spiegel hängt, und versucht mit wenig Erfolg, seine Frisur zu bändigen. Dann wäscht er sich gründlich die Hände und trocknet sie mit einem Papiertuch ab. Ich stehe neben ihm und frage mich, was ich jetzt machen soll. Soll ich einfach wieder gehen?
»Meinst du … Also, ich hab heute Abend nichts anderes mehr vor, kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?«
»Hättest du Lust?«
Ich zucke mit den Schultern. »Wie gesagt, ich hab nichts Besseres vor.«
»Papa?«, ruft Nils.
Fünf Minuten später habe ich eine Schürze vor mein neues Kleid gebunden und trage Tabletts mit Getränken und Brotkörben ins Lokal. Kostas klopft mir begeistert auf die Schulter und sagt, dass ich so lange bleiben darf, wie ich will, seinetwegen das ganze Leben, wenn ich Nils heirate. Nils verdreht die Augen. Als der blonde Kellner, der Martin heißt und so ungriechisch ist, wie er aussieht, drei Weingläser und eine Karaffe mit Wein auf mein Tablett stellt, verpasst Kostas ihm einen leichten Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und sagt, dass er Ärger kriegt, wenn rauskommt, dass minderjähriges Personal in seinem Restaurant den Gästen Alkohol serviert.
Es ist ein rundum gelungener Abend. Ich kann nicht behaupten, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt meine Unschuld gefährdet sehe, aber ich bekomme eine ganze Menge von Nils’ netten Blicken. Und zum Abschied sogar eine kurze Umarmung. Einen federleichten Druck um die Schulter mit einem Arm. Okay, eine angedeutete Umarmung, aber immerhin.
Es ist inzwischen halb elf. Nils wird noch ein oder zwei Stunden bleiben müssen. Theoretisch könnte ich auch noch bleiben und später neben Nils durch die Nacht nach Hause spazieren. Wenn meine Familie eine gewöhnliche Familie wäre, würde ich jetzt zu Hause anrufen und sagen, dass ich zwischen zwölf und eins nach Hause komme. Aber meine Familie ist keine gewöhnliche Familie. Ich glaube nicht einmal, dass sie Nein sagen würden, aber ich habe keine Lust auf Mamas finsteren, besorgten Blick oder Papas blanke, unterdrückte Angst, also fahre ich nach Hause. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen. Irgendwann habe ich sie mal gefragt, ob sie nicht noch ein Kind kriegen wollen. Nicht weil ich dachte, dass man ein Kind durch ein anderes ersetzen kann, sondern weil ich gern wieder zu zweit gewesen wäre. Ich wollte nicht ihr einziges Kind sein, damit die Aufgabe, weiterzuleben, nicht wie ein ständiger Schatten über mir liegt.
Es hat geregnet. Der Duft von nassem Asphalt mischt sich mit Essensgerüchen und Abgasen. Im Zentrum begegnen mir ein paar krakeelige Gruppen, ansonsten ist es ruhig, und ich komme problemlos, wenn auch etwas verfroren, zu Hause an.
Ich wollte nicht gemein sein«, sagt Siljas Stimme am Sonntagmorgen in mein Ohr.
Ich habe ausnahmsweise mal richtig lange geschlafen, und obwohl es schon auf halb elf zugeht, bin ich völlig verschlafen, als mein Handy klingelt. Ich taste danach, lege es irgendwie ans Ohr und schaffe es, die richtige Taste zu treffen. Aber es dauert trotzdem ein paar Sekunden, bis ich weiß, mit wem ich rede, und erst recht, was gesagt wird.
»Was?«, murmele ich.
»Schläfst du noch?«
»Nein, nicht mehr … Hallo, Silja.«
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken«, sagt sie. »Ich wollte mich eigentlich nur entschuldigen. Für das, was ich gestern gesagt habe. Es hat solchen Spaß gemacht, mit dir unterwegs zu sein, aber als du einfach abgehauen bist, nachdem Tonja gepfiffen hat … da war ich ziemlich angepisst. Darum hab ich das über Line gesagt.«
Ich setze mich in der zerwühlten Bettwäsche auf und drücke das Handy fester ans Ohr.
»Lieb von dir, dass du anrufst«, sage ich. »Obwohl ich hinterher gedacht habe, dass du wahrscheinlich gar nicht so unrecht hast. Zumindest nicht völlig. Aber wenn Line die Einzige ist, die nicht – wie war das noch gleich? – verlogen und scheinheilig ist, dann vielleicht deshalb, weil sie nichts zu verlieren hat. Wenn man schon hoffnungslos am unteren Ende der Beliebtheitsliste steht, dann …«
Ich breche den Satz ab, weil mir einfällt, dass Silja ja gar nichts von unserer Liste weiß. Niemand soll davon wissen, und am wenigsten Silja! Sie war schließlich der Anlass für das ganze Experiment. Aber Silja scheint es eher als symbolische und nicht tatsächlich existierende Liste zu verstehen, jedenfalls hakt sie nicht nach.
»Im Grunde genommen habe ich keine
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