Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
schrägen Ideen. Tonja, die nicht mit Fragen nervt, wenn ich weg muss, weil die grauen Krallen wieder zu scharren beginnen. Tonja, die dem Schmerz schweigend Gesellschaft leistet und wartet, bis er sich verzieht, ohne Erklärungen zu verlangen. Natürlich ist das wichtiger als alles andere. Vergessen wir das Ganze einfach. Silja kann ja trotzdem gehen. Bestimmt haben Sven und sie eine Menge Spaß bei der Fete, zu der sonst keiner aus der Klasse, offenbar nicht einmal Emelie, eingeladen ist.
Ach ja, Emelie.
Ich drehe vorsichtig den Kopf und schiele zu Emelie und Lovisa rüber, die schräg rechts hinter mir sitzen. Sie sind still. Lovisa kaut ein Kaugummi und Emelie schaut verträumt zu Emil, der inzwischen die Technik zum Laufen gebracht hat. Eine Abbildung des Periodensystems füllt die weiße Tafel vorne. Der halbe Schultag ist vergangen, seit Silja und Sven in ihrer intimen Unterhaltung gesehen wurden, aber noch hat Emelie nicht zum Schlag ausgeholt. Will sie Silja ungeschoren davonkommen lassen? Weiß sie etwas von der Fete am Samstag? Sie wird doch im Leben nicht stillschweigend zusehen, dass Sven Silja in eine Fete einschleust, zu der sie nicht eingeladen ist? Das ist unwahrscheinlich. Mehr als unwahrscheinlich. Das wird im Leben nicht passieren.
Sven sitzt schräg vor Emelie. Normalerweise sitzt er immer nach hinten gelehnt auf seinem Stuhl, die Beine lang vor sich ausgestreckt, aber das geht nicht im Chemiesaal, wo die Stühle höher sind und kaum eine Rückenlehne haben. Leo neben ihm hat die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände gestützt. Seine Rockermatte hängt ihm vor den Augen. Mir juckt immer die Nasenwurzel, wenn ich Leo angucke. Diese Haare! Vor Sven sitzt Silja. Der Platz neben ihr ist leer. Sie fängt meinen Blick ein und macht eine fragende Geste, die ich mit einem Achselzucken beantworte. Da dreht sie sich um und sagt leise etwas zu Sven, der sich ebenfalls umdreht und mir einen kurzen Blick zuwirft. Ich schaue schnell weg. Das ist definitiv zu viel an ein- und demselben Tag.
Line sitzt wieder alleine ganz vorne an der Seite, an ihrem üblichen Platz. Das leicht gewellte, blassbraune Haar reicht ihr bis knapp über die Schultern, die immer irgendwie hochgezogen und leicht nach vorne gebeugt sind, als würde sie damit rechnen, dass sich jemand von hinten auf sie stürzt. Wo ist Silja? Obwohl Line auf ihrem gewohnten Platz sitzt, sieht sie einsamer aus als je zuvor.
Ich hab keine Lust, darüber zu reden«, sagt Tonja, als wir nach der Schule nach Hause gehen. »Uns geht’s doch gut, und jetzt lässt du zu, dass Silja das alles kaputt macht. Ich kapier nicht, was in deinem Kopf vor sich geht!«
Wir schieben unsere Fahrräder auf dem Gehweg. Der Sturm von heute Morgen hat sich gelegt, aber es ist noch immer ziemlich kalt. Das war’s wohl mit dem Sommer. Übermorgen fängt der September an. Und am vierten September ist die Fete.
»Wieso macht sie alles kaputt?«, frage ich. »Sie hat doch bloß gefragt, ob wir mit zu der Fete kommen wollen. Und ich finde das spannend. Was ist denn schlimm daran?«
Tonja seufzt demonstrativ. »Mein Gott, Vendela! Erstens: Sind Lukas und Nils auch eingeladen? Nein. Also, warum sollten wir auf eine Fete gehen, wo sie nicht sind? Zweitens: Emelie wird ausrasten und uns in Grund und Boden stampfen, kapierst du das nicht? Und was machen wir dann? Für den Rest des Jahres Uno mit Line spielen? Danach brauchen wir uns auf keinem Klassenfest mehr blicken zu lassen, du blöde Nuss! Ich hab keinen Bock, alles für ein bescheuertes Fest aufs Spiel zu setzen, wo wir keine Sau kennen. Und du bist doch gerade auf einem guten Weg mit Nils. Das wäre doch der Jackpot mit uns vieren. Und das alles scheint dir plötzlich nicht mehr wichtig zu sein. Aber mir schon. Verstehst du eigentlich überhaupt nichts mehr?«
Sie hat ja recht, Tonja hat immer recht. Sie hat manchmal irritierende Ähnlichkeit mit Line. Tonja ist vernünftig, also gerecht, bedacht und vernünftig. Alle Eltern würden sich für ihre Kinder eine beste Freundin wie Tonja wünschen. Mit Tonja besteht kein Risiko, in schlechter Gesellschaft zu landen. Mit Tonja passiert aber auch nichts Spannendes.
Augenblicklich meldet sich mein schlechtes Gewissen wegen meiner Gedanken.
Was ist denn in mich gefahren? Vielleicht hat Tonja auch da recht, vielleicht ist Silja ja wirklich ansteckend. Aber ich kann mir nicht helfen, Silja ist irgendwie lebendiger als wir alle zusammen. Ich will auch leben. Nicht nur
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