Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
formulieren soll, als das Klingeln die peinliche Stille durchschneidet und Tonja mich am Arm zieht.
»Ich will nicht zu spät zu Chemie kommen!«, sagt sie. »Beeil dich!«
Auf dem Weg zu unseren Schließfächern nimmt sie mich ins Kreuzverhör.
»Worum geht’s? Was ist hier eigentlich los?«
»Wir sind zu einer Fete eingeladen«, flüstere ich aufgeregt. »Mit Sven!«
»Was?«
Wir schnappen uns die dunkelblauen Chemiebücher und unsere Kollegblöcke aus den Schränken. Der Aufenthaltsraum leert sich langsam, aber sicher. Wir laufen zum Chemiesaal, und unterwegs versuche ich, ihr das Unerklärliche zu erklären: dass sie und ich zum Abschiedsfest von Svens Cousin eingeladen sind, der nach London zieht. Ich erzähle alles, was ich weiß, was nicht sehr viel ist, und als Björn die Tür zur Klasse aufschließt und wir uns auf unsere Plätze setzen, ist mein Wortstrom versiegt. Ich sehe Tonja an, bin immer noch ganz überwältigt und habe ein Kohlensäurekribbeln im ganzen Körper.
Tonja starrt mich genauso verblüfft an, wie ich Silja vorhin angestarrt habe. Aber ihre Reaktion ist ein wenig anders als meine.
»Leidest du jetzt an kompletter Hirnerweichung?«, fragt sie. »Ist Silja irgendwie ansteckend, oder was?«
Warum ist sie so schnippisch? Silja hat doch nur versucht, was Nettes für uns zu organisieren! Okay, das kommt vielleicht ein bisschen überraschend, sehr überraschend sogar, aber für Silja ist es vielleicht das Normalste von der Welt, auf die Fete eines Cousins eines Mitschülers zu gehen, auch wenn der Cousin ein paar Jahre älter ist. Eine richtige Fete. Keine Zwergendisko. Das ist doch spannend und erwachsen und … vor allen Dingen mal was Richtiges. Nächstes Jahr kommen wir aufs Gymnasium. Da kann es doch nichts schaden, schon mal ein bisschen zu trainieren?
Leider kann ich das alles Tonja nicht mitteilen, weil in Björns Stunden keine privaten Unterhaltungen gestattet sind.
»Das periodische System«, sagt Björn, während der Referendar Emil versucht, den Projektor in Gang zu setzen. »Wir haben ja schon öfter darüber gesprochen, aber in diesem Halbjahr nehmen wir es uns etwas detaillierter vor. Kann einer von euch erklären, was das periodische System ist? Ingela?«
Ingela schaut von ihrem Block hoch, auf dem sie herumgekritzelt hat, schiebt ihr üppiges Haar aus dem Gesicht und antwortet auf die ihr eigene leicht zögerliche, nachdenkliche Art: »Das ist so was wie … eine Liste aller Grundelemente, aus denen sozusagen alles besteht. Wie die Töne in der Musik, ungefähr.«
Björn lächelt. »Wundert mich nicht, dass die Beschreibung von dir kommt, aber das ist kein schlechter Vergleich, Ingela. Im Gegenteil.«
Ich schiele zu Tonja rüber, die verbissen geradeaus starrt, als wäre sie wütend. Aber was für einen Grund gibt es, wütend zu sein, weil man zu einem Fest eingeladen ist? Wenn man keine Lust hat, geht man eben nicht hin. Ich könnte sie ja noch verstehen, wenn sie nicht eingeladen wäre.
Genau das schreibe ich an den Rand meines Blockes und schiebe ihn diskret in ihre Richtung. Sie zieht ihn zu sich rüber und liest, was ich geschrieben habe. Dann nimmt sie ihren Stift und schreibt eine Antwort, die sie gereizt zu mir zurückschiebt.
Darum geht’s überhaupt nicht, kapierst du das nicht? Ich finde es nur unglaublich, dass du völlig selbstverständlich davon ausgehst, dass wir da hingehen!
Aha. Jetzt bin ich also die Doofe. Mag ja sein, dass ich schwer von Begriff und komplett blöd bin, aber ich verstehe nicht, wieso man nicht wenigstens in Erwägung ziehen kann, da hinzugehen. Wenn da nur völlig zugedröhnte Junkies rumhängen oder was immer Tonja sich vorstellt, können wir doch einfach wieder abhauen. Was ist daran so schlimm? Will sie das ganze Leben im Sandkasten verbringen? Mit Lukas zu schlafen, war okay, da konnte es ihr gar nicht schnell genug gehen mit dem Erwachsenwerden, aber mit Silja und Sven auf eine richtige Fete zu gehen, ist total undenkbar, oder was?
Ich drücke die Stiftspitze auf das Papier und schreibe eine wütende Antwort, überleg es mir dann aber doch anders. Die wenigen Male, die Tonja und ich uns wegen irgendwas gestritten haben, ging es mir hundsmiserabel. Es endet dann immer damit, dass ich sie anrufe und mich entschuldige, egal, wer recht hat oder nicht. Nichts ist wichtiger als unsere Freundschaft, nichts ist wichtiger, als Tonja zum Reden zu haben. Ihr Lächeln, ihre Umarmungen, wenn man traurig ist, ihre Kommentare und
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