Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
existieren, sondern richtig leben. Auch für Anton. Ich denke, dass wir es uns schuldig sind, unser eigenes Leben zu leben, aber wir sind es auch denen schuldig, die nicht mehr da sind. Silja lebt für sich und ihre Mutter Ariadne. Ich lebe für mich und Anton. Deswegen muss man nicht auf Brückengeländern balancieren, aber ein bisschen was riskieren sollte man schon. Sonst ist man nur ein kleiner Dreck, wie Jonathan in den Brüdern Löwenherz sagt. Aber da ging es um seinen Kampf gegen Tengil und nicht darum, dass er auf irgendein Fest gehen wollte. Andererseits, wenn es zum Streit mit Emelie kommt, ist das ungefähr das Gleiche wie ein Kampf gegen Katla.
Ich wünschte, ich hätte den Mut, unter wehenden Fahnen an Siljas Seite zu stehen und Emelies Rache zu trotzen.
Ich werfe einen verstohlenen Blick zu Tonja, die neben mir herläuft, und nehme mir vor, ihr zu sagen, dass ich auf alle Fälle gehen möchte. Aber sofort meldet sich wieder das schlechte Gewissen. Unmöglich. Natürlich geht das nicht.
Vielleicht ändert sie ihre Meinung, wenn ich ihr ein bisschen Zeit zum Nachdenken gebe, damit es sacken kann. Noch sind es ja fünf Tage. Fünf Tage, in denen man es sich anders überlegen kann. Falls Sven nicht plötzlich feststellt, dass er geistig umnachtet gewesen sein muss, und seine Einladung zurückzieht.
Als wir an die Kreuzung kommen, wo Tonja und ich uns jeden Morgen treffen, habe ich immer noch nicht auf ihre langen Vorhaltungen geantwortet. Meine Gedanken springen hin und her und vielleicht rechnet Tonja schon gar nicht mehr mit einer Antwort. Sie steigt jedenfalls auf ihr Rad und fährt los.
»Bis morgen«, sagt sie kurz.
Ziehen im Bauch. Was mache ich hier eigentlich?
»Ja, bis morgen«, nuschele ich.
Ein wirres Knäuel all der Dinge, die ich auf der Stelle sagen sollte oder längst gesagt haben wollte, wirbelt durch meinen Kopf, aber ehe ich einen Ton herauskriege, verschwindet Tonja aus meinem Blickfeld. Und da stehe ich wie der Idiot, der ich wahrscheinlich bin.
Aber immerhin hat sie »bis morgen« gesagt. So sauer kann sie dann ja wohl nicht sein. Oder?
Sobald ich zu Hause bin, schicke ich ihr eine SMS. Eine SMS, in der es um was ganz anderes geht.
Tonja war noch nie nachtragend. Wenn ich die Fete nicht mehr erwähne, wenn ich einfach so tue, als ob nichts gewesen wäre, taut sie sicher bald wieder auf. Bestimmt. Ich muss mich nur zusammenreißen und keine verbotenen Gedanken mehr denken. Der Abend mit Nils im Akropolis zum Beispiel war doch echt schön. Reicht mir das etwa nicht? Und er hat vorgeschlagen, demnächst mal was anderes zu unternehmen. Denkt er dabei an ein Kaffeetrinken im Miranda? Oder hat Lukas ihm erzählt, was er und Tonja am Wochenende gemacht haben, und … Quatsch! Das kann er nicht gemeint haben. Aber so ein bisschen Rumknutschen? Oder wenigstens ein Kuss?
Etwas aufgeräumter steige ich aufs Rad und trampele heimwärts. Bestimmt bin ich Tonja eines Tages unendlich dankbar dafür, dass sie mich von einer kolossalen Dummheit abgehalten hat.
Zu Hause ist alles ruhig, es ist keiner da. Ich schmiere mir ein Brot, schenke mir ein Glas Milch ein und setze mich an den Küchentisch. Wenn das Leben wäre, wie es sein sollte, würde Anton mir gegenübersitzen, auch er wäre gerade aus der Schule nach Hause gekommen. Als ich den Blick hebe, grinst er mich frech an.
»Was meinst du, soll ich zu der Fete gehen?«, frage ich ihn und wundere mich, dass ich das überhaupt noch als Alternative in Erwägung ziehe.
Er zieht die Schultern hoch und beißt in sein Brot. Die Haare fallen vor sein eines Auge und er schüttelt sie mit einer Kopfbewegung weg. Ich schaue aus dem Fenster. Die Fassade gegenüber ist schmutzig gelb und trist, die einzige in der ganzen Korngatan, die noch nicht renoviert wurde.
Sonderlich spannende Leute wohnen da auch nicht gerade. Die einzige Auffälligkeit ist, dass es dort nur Singles zu geben scheint. Keine Familien mit Kindern, keine Kinderwagen oder Alte mit Gehhilfen. Keine Jugendlichen, die abends mit ihren Freunden ein und ausgehen. Nur Einzelpersonen in unbestimmbarem Alter, so um die vierzig. Ich versuche mir mich mit vierzig vorzustellen. Werde ich auch eine von denen sein, die täglich zur Arbeit pendeln und ansonsten zu Hause hocken und fernsehen oder schlafen? In dem Fall möchte ich nicht erwachsen werden. Aber es ist nicht weniger seltsam, wenn ich mir vorstelle, ich habe zwei Kinder im Teenageralter und einen Mann um die fünfzig. Mir schießt
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