Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Lützowplatz, entzückende, warm emp findende Damen, die mir helfen und mich pflegen wollen, um gesund zu werden. Sie warten höchst interessiert auf den avisierten Besuch, der, wie sie vermuten, auch ihr Kreis ist. Ich bin sehr froh, diese Verbindung zu haben, hätte sehr genützt, wenn ich sie vor meinem erlittenen Nervenschock gehabt hätte. Aber man will sich noch jetzt sehr um mich kümmern, was mich insofern beruhigt, weil ich leider auch heute noch nicht weiß, […] ob die Hochzeit rechtzeitig sein wird. Du lässt ja eben nichts darüber hören, und die Zeit vergeht so schnell! Ich brachte Dr.
Sommer vor seiner Abreise noch eine 1
a selbst gebackene Käsetorte hin, deren Zutaten ich mir aufsparte, sie schmeckte ihm gut, er gab mir ein Schächtelchen Zigaretten mit, goldig! Na ja, ich meinte: Vielleicht können wir alles bald in Frieden und Freude feiern. Vorläufig aber sterbe ich langsam ab vor Sorge und Ungewissheit über mein Schicksal. Nun lass schnellstens von Dir hören und bleibe gesund, in dieser Erwartung mit herzlichsten Küssen,
Deine Mutti
Am 17.
Februar kommt die ersehnte Post der Fremdenpolizei:
In Ilses Notizbüchlein finde ich vieles, doch keinen Eintrag zu dieser Nachricht. Was hat sie erwartet? Hat sie Hoffnung gehabt, oder ist es eine späte, fast schon unentschlossene Unternehmung, deren Ausgang sie erahnt? Für den 17. und 18.
Februar fehlen Eintragungen, an allen anderen Tagen ist viel zu tun und zu notieren. Ich versuche, mich in Ilse zu versetzen, und sehe sie im Fälkli mit Renata. Sie sucht keinen Trost, aber Verständnis. Ilse sucht Verständnis statt noch mehr leerer Durchhalteparolen von eingebildeten Männern. Möglich, dass die Frauen Rotwein kippen. Der Winter ist kalt, rund um Basel frieren die kleinen Flüsse zu, und an den Butzenscheiben kleben Eisblumen. Am nächsten Morgen setzt sich Ilse »Victoria, Vicki« an ihren überladenen Arbeitstisch und schreibt nach Berlin. Dann bringt sie den Brief zur Hauptpost und fühlt sich allein in der eisigen Stadt.
Aus Berlin sind im Januar drei lange Deportationszüge mit über 3000 Menschen abgegangen. Im Februar herrscht eine trügerische Ruhe, alle spüren, dass es mit der »Reiserei« bald wieder losgehen wird. Tausende sind registriert. Sie sitzen im wahrsten Sinn auf ihrem Gepäck.
Am 20.
Februar reicht Ilse ihr Gesuch um Zulassung zum Doktorexamen ein und bezahlt die Gebühr von 125 Franken. Danach holt sie die Abschrift ihrer Dissertation ab und lädt den immer hungrigen Gerhard Oertl zum Abendessen ein. Der fragt sicherlich nach der Mutter, wo kaum noch Büchersendungen aus Berlin an ihn unterwegs sind, es wird ihr wohl schwer ergehen. Was soll Ilse darauf antworten? Sie schweigt, kann nicht davon sprechen – zu lange schon ist Mutti im unerbittlichen Wartestand. Es muss alles ein Ende finden: So – oder eben anders! In der Stadt ist es für Februar merkwürdig still. Seit 1940 herrscht ein Fasnachtsverbot. Keine »Plaquette-Verkäufer« in den Straßen, kein Morgenstreich, keine Cortèges, nur einige Trommelkonzerte und wenige Kostümbälle sind genehmigt.
Dazu gehört der Kehrausball im Restaurant Kunsthalle . Dort treffen sich am Samstag, den 28.
Februar auch Ilse und Hiroshi. Weit nach Mitternacht gerät Hiroshi in einen handfesten politischen Streit. Sein Gegner verpasst ihm zwei Faustschläge auf das linke Auge. Kitamura wird als Notfall in die Klinik eingeliefert. Der Polizeibericht beschreibt die Angelegenheit amtlich: »Verletzung eines Japaners durch einen Chinesen in der Kunsthalle «. Die Sache sorgt für einigen Wirbel, Politik ist im Spiel. Der Angreifer Chen Chiado ist der Sohn des chinesischen Gesandten in Berlin, der als Student in Basel angemeldet ist. Kitamura wird zweimal operiert, das Auge bleibt beschädigt. Ilse schickt Blumen und besucht ihn jeden Tag. Sie liebt ihn – trotz allem. Was sie nicht wissen kann, in sechs Monaten wird ihr »Genji« in Zürich Frau Maria Ramuz heiraten und bald darauf Vater sein.
Für Ende Februar hat sich Artur Sommer bei Ilse angemeldet: ein von ihr dringend erwarteter Besuch. Neuigkeiten von der »Hochzeitsreise«? Stattdessen ein Brief aus Rom.
Rom, den 28.
Februar 1942
Liebes Fräulein Winter,
leider komme ich jetzt nicht mehr in die Schweiz, um mit Ihnen ausführlich zu sprechen. Am 9. III habe ich einen Boten für die Schweiz.
Bitte grüßen Sie Edgar herzlich. Vielleicht komme ich im April/Mai nach Bern.
Ihr
Weitere Kostenlose Bücher