Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
zu kommen. Derweil sorgt der diplomatische Geschäftsträger in Mulhouse für die reibungslose Einhaltung der Verträge – mit Erfolg. Im Sommer 1945 kehren die vier Brüder zurück, um mit ihren nun schon etwas angegrauten Demoiselles wieder modische Hemden zu produzieren. Man wird sich was zu erzählen gehabt haben!
Für die Geschwister Eisenberg, »Putz« in Tel Aviv, Annie in London, Willi in Paris und Marie in Berlin, muss sich das Lebender arbeitslosen Fabrikanten unterdessen ausnehmen wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Von Schwester »Putz« erfahren wir wenig. Sie schreibt selten, kämpft mit Klima und anderen Entbehrungen, doch scheinen sich die Treitels in Tel Aviv gut einzuleben. Die Familie ist zusammengeblieben, die Söhne lernen und kommen voran. In der HaYarkon Street teilen viele Menschen ein ähnliches Schicksal, was an den vielen Tagen mit schlechten Nachrichten aus Europa auch geteiltes Leid bedeutet. Ihr Mann, der Ingenieur Hans, der Morsen und Funken beherrscht, betreibt für die Peilung der illegalen Einwandererschiffe eine kleine, selbst gebaute Radiostation auf dem offenen Balkon der Wohnung – darauf wird er zeitlebens stolz sein. Tags beseitigt er Wackelkontakte und repariert gebrauchte Elektrogeräte, dazu gibt er jeckische Eizes , besserwisserische Ratschläge.
Die Londoner Schwester Annie Kanitz avanciert währenddessen zur Leiterin einer großen Suppenküche der Quäker. Bei Kriegsausbruch ist sie mit ihrem Mann Bob für drei Monate als Bürgerin einer feindlichen Nation auf einer Kanalinsel interniert gewesen, doch nun braucht man jede Hand, und die Quäker bürgen für die Familie. Annie war nie eine besonders gesunde Frau gewesen, und die Arbeit und die vielen Alltagssorgen zehren an ihr. Ihr einziger Sohn Fritz hat sich freiwillig zur Army gemeldet. Nun ist er ein überzeugter britischer Patriot und wird 1945 als Intelligence Officer in Berlin für die Entnazifizierung arbeiten. Sein Vater, k.u.k. Sektionschef a.D., ist resigniert und still. Er hat es nie verwunden, dass ihm 1938 seine berufliche und gesellschaftliche Stellung geraubt worden ist. Am 23.
September 1940 wird Annie während eines »Blitz« verschüttet, und wie durch ein Wunder kann sie aus den Trümmern des Hauses gerade noch lebend geborgen werden.
»Wie gescheit wäre es doch gewesen, wenn wir alle miteinander nach Palästina gegangen wären«, schreibt Onkel Willi anIlse, nachdem er im Dezember 1940 aus dem Internierungslager entlassen worden ist. In seinem Brief vom 1.
Mai hatte er noch ganz andere Pläne. Seine Erfindung einer Dämmplatte aus Gipskork für den Innenausbau soll das große Geld bringen, mit dem die ganze unglückliche Familie gerettet werden kann. Sechs Wochen später entpuppt sich die uneinnehmbare Maginot-Linie als strategisches Fiasko, und Willi Eisenberg wird ein »unerwünschter Ausländer« und in der barraque 6 des Camp de la Viscose bei Albi interniert. Maries Briefe an Willi werden nicht mehr zugestellt, und Willi wiederum darf nur dürftige fünfundzwanzig Worte über das Rote Kreuz verschicken, um ein Lebenszeichen zu geben. So läuft jetzt die gesamte Post über Ilse in Basel, die Willi nach Kräften Pakete schickt.
Nach seiner Entlassung Ende 1940 ist Willi ein kranker Mann. Er beschließt, zu alten Berliner Bekannten in die Nähe von Lyon zu ziehen. Dort will er wieder zu Kräften kommen und sein nun chronisches Magenleiden kurieren. Gemessen an Willis Unglück lebt Marie weiterhin in ihrer kleinen »Gemütlichkeit«.
Marie in Berlin
Annie mit Bob und Sohn Fritz in London
Willi in Paris (Passfoto)
»Putz« in Tel Aviv
Berlin, den 6.
Juni 1940
Mein Geliebtes,
jetzt kann ich endlich morgens mein Frühstück draußen auf Kattreiners Platz nehmen, und da ich leider keinen sonst zu füttern habe, kriegen die Drosseln und Spatzen das Weiche von der Semmel und sammeln sich um mich, wenn ich mit dem Tablett hinauskomme. Alles das kann mich aber nicht glücklich und zufrieden machen, meine Welt ist nicht mehr hier; wo sie aber ist und sein wird, wer weiß es?
Ich bin gottlob noch gesund, habe zu essen, meine süße kleine Wohnung, auch Geld, so viel ich gebrauche und so viel man zu kaufen kriegt dafür. Kirschen von Herrling, gestern zum ersten Mal ein Pfund schnell vertilgt, und morgen bringt mir das Mädchen von oben Erdbeeren vom Markt mit, da ich ja nicht hin darf. Nachmittags um 4
Uhr sind sie ausverkauft in den Läden.
Ihr kleiner Freundeskreis,
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