Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
bestehend aus Marta Baum, Frau Grünthal und Lotte Ucko, trifft sich gern bei Marie im Garten. Ihre Freundinnen wohnen nun schon sehr beengt, und in der Öffentlichkeit ist seit Langem kein Platz mehr für Kaffeekränzchen.
Marie schreibt weiter:
Immer und immer mit jedem, der zu einem kommt, derselbe Gesprächsstoff: Wie wird man wieder gesund? – Sprich: Wie entkommt man der Verfolgung?
Wenn Du die Gesichter nur sehen würdest, wie vergrämt und verunglückt. Gestern war Lotte Ucko bei mir, die ebenso allein und verlassen ist und nicht weiß, was mit ihr werden wird. Sie ist zwar ein paar Jahre älter als ich, aber wie eine Greisin, so gebrochen, man sieht immer bei anderen, wie die Zeit an einem frisst.
Noch gibt es Unterbrechungen des Alltags, etwa ein Kinobesuch mit Freundin Marta Baum, im Lichtspielhaus des noch funktionierenden Kulturbundes in der Kommandantenstraße. Irrwege der Liebe in der Originalfassung sehen die Freundinnen im Sommer 1940:
War entzückend, aber anstrengend in der echt amerikanischen Aufmachung und Hast; ich war zuletzt ganz ab. Man ist ja nicht mehr gewöhnt, neue Eindrücke in sich aufzunehmen, weil man geistig verblöden muss. Nichts weiter als schlafen gehen, aufstehen, für das notwendige Fressen sorgen, Jammern von allen Seiten hören, so täglich dasselbe. Grauenvoll, wenn man sich sagt, man könnte doch noch etwas leisten und Freude verbreiten und leben. Ich hab jetzt ein schönes Buch gelesen, Via Mala von Knittel, kennst Du das? Amadeus , auch von demselben Autor, soll ich jetzt kriegen. Ein Schweizer, dieser Knittel, hat mich sehr interessiert, und ich kann nur lesen, wenn es kein Schmarren ist. Ich lege mich um halb zehn Uhr ins Bett, lese, bis ich müde bin und oft auch nachts, wenn ich erwache, man braucht in meinem Alter nicht mehr so viel Schlaf, aber das Wachsein ist grässlich!
In Berlin wird Maries Alltag im Frühsommer 1940 quälend kompliziert.
Ach Gott, schwer, schwer, alles, was man macht und tut, sowie man die Augen aufmacht. Als Neuestes lese ich heute, dass man die Post ins nichtfeindliche Ausland nicht in den Briefkasten werfen darf, sondern mit Lichtbildausweis, also Kennkarte, zur Post bringen muss, wo der Beamte sie mit Marken versehen muss. Für mich eine sehr erschwerende Maßnahme, auch dort Schlange zu stehen, da die Schalter immer in Massen besetzt sind. Draußen ist die Beschränkung auf Schritt und Tritt.
Marie muss ihr Telefon abgeben, der Umfang der Briefpost wird eingeschränkt, und seit Juli dürfen Juden in Berlin nur noch zwischen 16 und 17
Uhr ihre Einkäufe machen.
Auswanderer können neuerdings so viel wie nichts mehr mitnehmen, ungefähr einen Doppelkoffer. Kannst Dir ja vorstellen, wie mir ist bei dem Gedanken, mal so weit zu sein. Wie soll man da noch Interesse haben, sich mit Dingen zu freuen. Du kennst doch mein Naturell, das sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt und immer noch allem mit Gewalt etwas Hoffnung abgewinnen kann, jedoch jetzt habe ich das nicht mehr.
Doch kurz darauf schöpft Marie wieder »Auswanderer«-Mut und beginnt systematisch, ihre guten Stücke in Sicherheit zu bringen. Zunächst schickt sie Ilse das »Meissener Kaffeeservice« nach Basel, bald darauf einen großen Wäschekoffer. Die Packliste geben die Schuhkartons preis:
Vier Bettlaken,
drei Bettbezüge, sieben Kissenbezüge,
21 Handtücher,
14 Servietten,
sieben Tischdecken, weiß,
zehn Krebsservietten,
zwei Spitzenmilieus,
Schürzen,
Staubtücher,
Pyjamas,
Smokinghemden,
Reitkravatten [...]
Marie gönnt ihre guten Stücke nicht dem »allgemeinen Ausverkauf«. Mit Umsicht und Geschick rettet sie das Familiensilber, die Perserteppiche, das Festtagsporzellan, die Vasen aus böhmischem Kristall und eine ganze Vitrine voller Nippes. Sie räumt ihr Leben auf, räumt Vergangenheit beiseite und sorgt, ganz Kaufmannsfrau, für den Werterhalt, denn eines Tages wird sie – und davon ist Marie Winter fest überzeugt – zu ihrer Tochter, zu ihren Sachen zurückkehren. Später lässt sie einen Strohmann ihr ganzes Esszimmer, Kommoden, Schränke und Lüster bei der Spedition Danzas in Freiburg, Breisgau, einlagern – zur Auslieferung in Friedenszeiten: »Es wäre schade, wenn es in die Brüche ginge. Im Verhältnis zu all unserem Kummer nicht so bedeutend, relativ, aber immerhin sind die Sachen Andenken und wertvoll für Dich persönlich. Weiteres wird wohl dahingehen müssen, wie alles Jüdische, als wäre es nie gewesen.«
Im
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