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Ich will meinen Mord

Ich will meinen Mord

Titel: Ich will meinen Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Vanderbeke
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Grunde angewandte Kulturkritik im Sinne der Enzyklopädisten.
    Meine Mutter wird mir heute abend ihre Neuerwerbungen vorführen und beiläufig meine Stiefel mißbilligen, die sie vom Frühling schon kennt und vom vorigen Winter, sogar noch länger. Die hattest du schon in der letzten Saison an, sagt sie und zeigt mir ihre nagelneuen Schuhe für jede Gelegenheit: Straßenschuhe, Opernschuhe, Wanderschuhe, Turnschuhe, Berufsschuhe, davon gleich mehrere Paar, weil man nicht jeden Tag mit denselben Schuhen zur Arbeit gehen kann, während Viszman offensichtlich jeden Tag dieselben Schuhe anhat als praktizierender Diderot-Kenner und Enzyklopädist. Natürlich könnte seine Frau sich um seine Schuhe kümmern.
    Meine Mutter kümmert sich nicht nur um ihre Schuhe, sondern auch um die Schuhe meines Vaters, der in seiner Jugend schließlich auch Trotzkist war, allerdings nach seiner Abkehr vom Trotzkismus nicht den Weg zurück gefunden hat zu den Anfängen europäischer Kulturkritik, sondern direkt in den Antikommunismus fortgeschritten ist, wie bekanntlich viele Kommunisten geradewegs nach ihrer Abkehr vom Kommunismus die entschiedensten Vertreter eines Antikommunismus geworden sind, der seinen kritischen Blick auf das Schuhwerk eines Menschen wirft anstatt auf die Anfänge europäischer Kulturkritik und Diderot. Meine Mutter hat meinen Vater trotz seines Trotzkismus geheiratet und ihn früh mit neuen Schuhen versorgt, die ihn den Weg in den Antikommunismus leichter haben beschreiten lassen. In ganz Europa gibt es allenfalls noch fünf Menschen, die die Lektüre von Diderot mit dem Boykott antikommunistischen Schuhwerks verbinden.
    Sonderbar ist, daß zwei Fünftel davon in einem Abteil sitzen. Die anderen drei würden mich interessieren.
    Sie sitzen jedenfalls nicht im Abteil, obwohl die Inspektion der Nationalparks und Naturschutzgebiete der Kulturkritik Diderots im weiteren Sinne nicht ganz und gar fern steht. Natürlicherweise ist, wer die Nationalparks vor ihren Direktionen zu schützen versucht, ob wissentlich oder nicht, Rousseauist, also Kulturkritiker an sich. Was sonst sollte unter Naturschutz im Sinne Rousseaus zu verstehen sein als Kulturkritik an den Direktionen der Nationalparks und ihren Potemkinschen Dörfern wie auch an den dunklen Geschäften eines Monsieur Barbagelata, mit dessen Waffenexporten die endgültige Zerstörung Tahitis vollzogen wird, die bereits Diderot für unwiderruflich gehalten und prophezeit hat. Die Inspektoren tragen entsprechend Naturschützer-Schuhwerk, robust und dick eingefettet, mit dem sich die europäischen Sümpfe beschreiten lassen.
    Ich werde Viszman nicht wegen seiner Kulturkritik töten, die ich, im Gegensatz zu seiner trotzkistischen Jugendsünde, mit ihm und noch drei anderen Europäern teile.
    Im Grunde ist es ein Jammer, mit der Person Viszmans ein Fünftel der europäischen Kulturkritik zu erledigen, ein Fünftel derer, die die Lektüre Diderots mit dem Boykott antikommunistischen Schuhwerks zu verbinden bereit sind, weil eine Theorie umgesetzt werden muß in eine vernünftige Praxis. Diese Praxis kann schließlich nicht sein, Schuhe als solche radikal zu boykottieren und beispielsweise barfuß durch die europäischen Sümpfe zu schreiten, nicht einmal Diderot ist es ums Barfußgehen an sich gegangen, und ob es Rousseau darum ging, müßte ich nachschauen oder Viszman fragen, an den Inspektoren ist immerhin festzustellen, daß Rousseau verwässert in den staatlichen Naturschutz Eingang gefunden hat: Digitaluhren, Uhren überhaupt, die Zeittaktigkeit des Lebens sowie des staatlichen Naturschutzes muß jeder konsequent zu kulturkritischer Praxis entschlossene Diderot-Leser boykottieren, darin bin ich mit Viszman und den drei anderen Fünfteln der europäischen Kulturkritik einig. Meine Schuhe sehen entsprechend aus.
    Ein Blick auf meine Schuhe, und jedes Gericht der Welt wird mir meinen Antikapitalismus umstandslos glauben, den ich bereit bin, auf meinen Eid zu nehmen. Keiner soll mich für einen Strohmann des Monsieur Barbagelata halten, der bekanntlich nicht nur von der Trockenlegung der Sümpfe im ganzen Land profitiert, sondern an der Zerstörung Tahitis aktiv beteiligt ist und den zu erledigen wahrscheinlich sinnvoller wäre, als ein Fünftel der europäischen Kulturkritik auszuschalten.
    Meinem Verleger morgen ist es ziemlich egal, wen ich ausgeschaltet habe. Sogar seine Bedenken gegen mein schriftstellerisches Handwerk entfallen, wenn er hört, daß ich polizeilich

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