Ich will vergelten: Thriller (German Edition)
ging zu ihnen hinüber, wobei sie auf die Beweismitteltüte zeigte. »Das gehört nicht unserer Amy!«, wiederholte sie.
Daniels suchte Bestätigung bei Mr Grainger und bekam sie.
»Jen hat recht. Das gehört nicht ihr.«
»Sind Sie sich absolut sicher?«
Der Mann nickte und legte den Arm um seine Frau.
»Vielleicht hat sie ihn sich geliehen …«, meinte Daniels. »Junge Frauen tun das häufig …«
»Schon möglich, aber unwahrscheinlich. Sie war …«
Mrs Grainger blaffte ihren Mann an: »Nein!«
Seine Augen fanden Daniels’, mit einem entschuldigenden Ausdruck, schien es ihr.
»Unsere Amy ist sehr heikel, was ihre Kleider angeht. Sie würde sich niemals etwas leihen! Nie!« Mrs Grainger riss sich von ihrem Mann los. »Du solltest das wissen, Terry. Sie ist auch deine Tochter.«
Es war kaum zu übersehen, dass die Tragödie dieses Ehepaar auseinandersprengen konnte. Daniels hatte über die Jahre hinweg gesehen, wie das mehreren Elternpaaren von ermordeten Kindern passiert war, sogar solchen, die sie für besonders vertraut miteinander gehalten hatte. Vorwürfe, Schuldgefühle und vergangene Fehltritte wurden häufig in einer Krise zusammengekratzt und als Munition benutzt, die sie aufeinander abfeuerten, bis nichts mehr übrig war. Scheidungen waren keine Seltenheit bei den Eltern von Mordopfern. Schon der Gedanke daran machte sie traurig.
Daniels wandte sich wieder dem Kasten zu und holte andere Dinge heraus: ein Paar Giorgio-Armani-Jeans in Größe zehn, ein blaues Hemd mit Dreiviertelärmeln, ein Paar hochhackiger Schuhe. Jedes Mal zogen sich Mrs Graingers Lippen fest zusammen, und sie schüttelte vehement den Kopf. Daniels erwartete dieselbe Antwort, als sie eine Tüte hervorholte, die Unterwäsche enthielt, aber zu ihrer großen Überraschung nickte die Frau dieses Mal.
Da Daniels erkannte, wie bedeutsam diese Entwicklung war, sah sie zu Gormley hinüber. In Gegenwart von Amys Eltern konnten sie sich nicht auf Spekulationen einlassen. Sie legte den beunruhigenden Gedanken zu den Akten und zeigte ihnen das letzte verbleibende Beweisstück: eine wertvolle Kette.
Daniels verpasste die Reaktion des Paares darauf. Sie war zu sehr mit ihrer eigenen Erschütterung beschäftigt. Als ihr Blick auf die Kette fiel, stellten sich ihr die Nackenhaare auf.
Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.
Gormley, der ihre Beunruhigung über das Beweisstück bemerkt hatte, sah neugierig zu, als sie das Buch mit den Beweisstücken heranzog und die Liste mit dem Zeigefinger hinunterfuhr, bis sie auf dem letzten Stück innehielt: Schmuckstück, entfernt vom Hals von besagter Eins – unidentifiziertes weibliches Opfer gefunden am Housesteads Fort.
»Warum sollte sie Kleidung von jemand anderem tragen?«, fragte Mrs Grainger.
Daniels hatte sie nicht gehört.
Gormley antwortete an ihrer Stelle. »Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht. Aber wir werden es herausfinden. Es gibt Dinge, die wir Ihnen im Moment nicht sagen können, aber so bald wie möglich werden wir das nachholen.«
Daniels war wieder da. »Sie haben unser Ehrenwort. In der Zwischenzeit muss ich Sie bitten, mit niemandem über Amys Tod zu sprechen, insbesondere nicht über die Tatsache, dass sie die Kleidung eines anderen Mädchens getragen hat. Die Journalisten werden mit jedem möglichen Trick versuchen, Sie zum Sprechen zu bringen. Aber ich möchte Ihnen empfehlen, es nicht zu tun. Es könnte dem Täter helfen, der Justiz zu entgehen. Und ich weiß, Sie würden das nicht wollen.«
»Aber wessen Kleider sind das?«, fragte Mr Grainger. »Warum sollte …«
»Sie glauben, noch ein Mädchen ist entführt worden, nicht wahr?« Jetzt sprach Mrs Grainger. Ein gutes Zeichen, dachte Daniels. »Das glauben Sie! Ich seh’s in Ihren Augen. Was verschweigen Sie uns? Oh Gott! Terry, was geschieht hier? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass noch eine Familie dasselbe …« Ihre Stimme verebbte, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte.
Carmichael war gerade im rechten Augenblick erschienen.
Gormley öffnete die Tür und bat sie herein. »Das ist Lisa«, sagte er.
Daniels’ Magen fühlte sich bleischwer an, als ein Funken Leben in Mrs Graingers Gesicht erschien. Es war beinahe, aber dann doch nicht, ein Wiedererkennen. Lisa Carmichael war Amy Grainger nicht unähnlich: Sie war ziemlich groß, hatte langes blondes Haar und ein jugendliches, fröhliches Gesicht. Nicht die Geeignetste, um sie jetzt dabeizuhaben. Aus dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu schließen
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