Ich will vergelten: Thriller (German Edition)

verschlechterte sich plötzlich die Luft, und Jessica würgte, als der Geruch von verwesendem Fleisch in ihre Nase und ihren Mund drang und das Bild von halb aufgefressenen Leichen – die Münder geöffnet zu einem unendlichen Schrei – in ihrem Kopf auftauchte.
    Das hier ist nicht wirklich.
    Delirium.
    Halluzinationen.
    Sie versuchte, diese makaberen Gedanken zu verdrängen, aber sie blieben. Sie schloss die Augen und fing wieder an zu zählen: eins … zwei … drei … jetzt lauter … sieben … Reiß dich zusammen! … bis die Erschöpfung die Oberhand gewann und sie gerade einmal vier Jahre alt war und ihr Lieblingsbilderbuch auf den Knien hielt. Zum Klang der Stimme ihrer Mutter schlief sie ein.

38
    »Mein Gott!« Daniels nahm das Fernglas herunter und sah die beiden Männer an. »Wo zum Teufel sollen wir mit der Suche anfangen?«
    »Hat Lisa einen Geologen aufgetan?«, fragte Weldon.
    Gormley nickte. »Er hat deine Nummer. Warte auf den Anruf.«
    »Es wäre nie einfach gewesen …« Weldons Stimme verlor sich, als er aus dem Fenster auf die trostlose Landschaft sah. »Aber jetzt ist das Wetter umgeschlagen, und wenn wir die Möglichkeiten nicht ein bisschen einschränken können, kommen wir zu spät.«
    Die Bemerkung verärgerte Gormley. »Sei nicht so verdammt pessimistisch. Du bist der beschissene Experte. Wir erwarten von dir, dass du sie findest – gib wenigstens dein Bestes. Du hast gehört, was ich gestern gesagt habe. Es könnten inzwischen zwei sein.«
    »Ich bin kein Zauberkünstler!«
    »Hey, ihr beiden!« Daniels wandte sich an Weldon. »Hank hat trotzdem recht, Dave. Diese Art zu denken bringt uns nicht weiter. Ihr müsst hundert Prozent bei der Sache sein, sonst haben wir nicht die geringste Hoffnung, Jessica Finch lebendig zu finden. Wir wissen, dass sie hier irgendwo ist. Rachel Somers vielleicht auch, aber daran möchte ich gar nicht denken.«
    »Macht euch keine Sorgen.« Weldon zeigte auf sein Team, das in den Wagen wartete. »Die arbeiten, bis sie umfallen, das ist keine Frage, und ich genauso. Ein Wort von euch, und wir fangen an.«
    Daniels bemerkte, dass der Regen heftiger wurde. »Irgendeine Idee, wie wir anfangen sollen?«
    Weldon dachte einen Augenblick lang nach. »Wenn wir davon ausgehen, dass euer Verdächtiger Jessica hätte tragen müssen – entweder gegen ihren Willen oder als totes Gewicht, wenn sie betäubt war –, würde ich vorschlagen, dass wir mit den Minen anfangen, die dieser Straße am nächsten liegen.«
    »Gute Idee«, sagte Daniels.
    »Finde ich nicht«, mischte sich Gormley ein. »Wenn ich sie verstecken müsste, dann täte ich wahrscheinlich gerade das Gegenteil. Er könnte sie hierhergeflogen haben, vergesst das nicht.«
    »Da ist was dran.« Über ihre Schulter hinweg sah Daniels eine Karawane von Wagen, die langsam den Berg hinauffuhr. Durch das Fernglas konnte sie erkennen, dass es sich um spezielle Allradfahrzeuge handelte, die alle das Wappen der Polizei von Northumbria trugen. Fernlichter waren eingeschaltet und beleuchteten ein Stück Asphalt, das eher einem reißenden Fluss ähnelte als einer Straße. Sie blickte Weldon an. »Die Kavallerie ist da. Ich schlage vor, dass die Spezialeinheit nach möglichen Landeplätzen abseits der Straße sucht, und Ihre Leute decken die Gegend ab, die dichter an der Straße liegt.«
    Weldon nickte. »Hört sich nach einem Plan an.«
    Daniels’ Handy klingelte: noch einmal Alec Walton.
    Lieber Gott, mach, dass er Harris zur Vernunft bringen konnte.

39
    Im Untersuchungsgefängnistrakt war die Hölle los, als sie wieder im Hauptquartier eintrafen. Die Luft war geschwängert mit dem unverwechselbaren Gestank von Cannabis. Gerüchte besagten, dass es am Morgen eine große Drogenrazzia gegeben hatte und dass Stoff im Wert von hunderttausend beschlagnahmt worden war. Womit Daniels nicht gerechnet hatte, war, dass sie selbst unfreiwillig eine Kostprobe von dem Zeug nehmen musste.
    Am Eingangstresen hatte sich eine Schlange gebildet. Die Zellen quollen über. Häftlinge schrien nach diesem oder jenem, schlugen gegen Zellentüren und brüllten diensthabenden Beamten Beleidigungen zu. Der Lärm war ohrenbetäubend. Während sie durch den Raum ging, brach ein Tumult aus, und sie war gezwungen, zur Seite zu treten und um eine wohlbekannte örtliche Nutte herumzugehen, die sich mit einer frisch in Dienst gestellten Polizeibeamtin stritt. Ein Gefühl von Déjà-vu befiel Daniels, als sie die komische Szene beobachtete. Ihre erste