Ich will vergelten: Thriller (German Edition)
ab und hängte sie über die Sonnenblende.
Gormley antwortete nicht. Er war eingeschlafen.
Während Daniels weiterfuhr, veränderte sich die Landschaft. Hügel und Täler wurden von wilderem und zerklüfteterem Gelände abgelöst. Schneepfosten blitzten auf beiden Straßenseiten vorbei, legten Zeugnis ab von den extremen Bedingungen, die im Winter hier herrschten. Und plötzlich donnerte es so laut, dass der Toyota beinahe von seinem Fahrgestell geschüttelt wurde.
Gormley schnaubte und erwachte ruckartig.
Daniels stellte die Scheibenwischer an, als der Himmel seine Pforten öffnete. Doch sogar bei Höchstgeschwindigkeit konnten die es mit dem Wasser, das auf sie herunterprasselte, kaum aufnehmen. Gormley gähnte. Er beugte sich vor und lugte durch die Windschutzscheibe auf die Lichter vor ihnen. Eine Gruppe Autos – alles Land Rover Defender – parkte etwa eine halbe Meile entfernt am Straßenrand. Daniels fuhr darauf zu und blieb schließlich neben ihnen stehen. Jedes Fahrzeug trug das Logo der North Pennines Fell Rescue.
Jemand, den sie nicht erkennen konnten, winkte durch das beschlagene Fenster des vorderen Fahrzeugs. Er sprang heraus und rannte zur hinteren Tür des Toyota. Wasser rann an ihm herunter, als er sie öffnete und einstieg. Weldon trug wasserundurchlässige Cargohosen und eine rote Regenjacke, deren Kapuze er dicht ums Gesicht gezogen hatte; darunter lugte ein weißer Sicherheitshelm hervor.
Sein Gesichtsausdruck war ernst, als er die Kapuze herunterstreifte.
Als er den schweren Reißverschluss seiner Regenjacke aufzog, erschienen eine Pfeife, ein GPS und ein Fernglas um seinen Hals. Letzteres gab er Daniels, da ihr Seitenfenster am wenigsten dem Regen ausgesetzt war. Sie hielt es vor die Augen und stellte es scharf. Als sie die Gegend überblickte, verließ sie jede Zuversicht. Das zerklüftete Terrain, das sie erblickte, war mit Schachtausgängen, Abraumhalden und alten Minen gespickt, so weit das Auge reichte. Und noch schlimmer, sanfte Bäche wurden zu wütenden Wildwassersturzfluten, die überall herumspritzten und blubberten. Genau, was sie befürchtet hatte.
37
Jessica Finch war dabei, zu ihrem eigenen medizinischen Notfall zu werden. Wenn sie die Dehydrierung nicht umbrachte, würde es schließlich die Auskühlung tun. Sie zitterte unkontrollierbar, während ihre Körpertemperatur sank, als das Wasser um sie herum anstieg, Zentimeter um schmerzenden Zentimeter. Seine wirbelnden Strömungen schwappten mit solcher Heftigkeit um ihre Beine, dass sie davon weggeschwemmt worden wäre, wenn die Fesseln sie nicht an der Wand festgehalten hätten.
Beweg dich!
Jessica fing an, auf der Stelle zu gehen, versuchte, so ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr: Minuten schienen ihr wie Stunden, Stunden wie Tage, und sie begann, die Orientierung zu verlieren. Der Lichtschein war wieder auf der gegenüberliegenden Wand, aber sie konnte nicht ausmachen, warum. Hatte ihr Entführer die Glühbirne ausgewechselt? Oder hatte sie sich einfach nur eingebildet, dass das Licht ausgegangen war, als sie in einen Dämmerzustand hinübergeglitten war?
Jessica drehte den Kopf zur Seite, aber es war schwer zu erkennen, worauf sie blickte. Schatten spielten Theater auf der glänzenden schwarzen Wand. Einen Moment lang sah sie den Schatten eines Mannes, der so unbeweglich dastand wie eine Statue, im nächsten Augenblick war sie sich nicht mehr sicher. Was auch immer es war, es schien mehr oder weniger scharf zu sein, je intensiver sie es ansah.
Sie versuchte zu schlucken, aber ihre Kehle war trocken und geschwollen.
Dann fing sie an zu hyperventilieren.
» Hallo? Hallo? Hallo? Hallo? «, rief sie atemlos, und ihre schwache Stimme hüpfte im Raum umher. » Wer ist da? Wer ist da? Wer ist da? Wer ist da? «
Nichts.
» Hallo? Hallo? Hallo? Hallo? «
Das Knabbern an ihren Knöcheln störte Jessica längst nicht mehr. Die Möglichkeit einer Infektion durch was auch immer da im Wasser herumschwamm konnte nicht halb so schlimm sein wie das schiere Entsetzen, das sie jetzt gepackt hatte. Sie rief wieder, ihre Stimme hallte durch den Tunnel. Sie begann, die Tropfen Flüssigkeit zu zählen, die sie langsam in den Wahnsinn trieben, seit sie in der Hölle aufgewacht war. Nun schienen sie merkwürdig beruhigend – wie der Rhythmus eines Pulsschlags.
Ihres Pulsschlags.
Sie lebte!
Und sie war entschlossen, ihr Martyrium zu überstehen.
Doch als ihr Herzschlag sich beruhigte,
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