Ich wollte Hosen
der Mathelehrer ihr befahl, den Blick zu senken und sie ihm zur Antwort gab: »Ich schaue hin, wo es mir paßt. Wenn Sie wollen, senken Sie den Blick.«
Für die Mädchen war Angelina ein Idol, ich hielt sie nur für eine Exhibitionistin und obendrein für ein bißchen doof. Aber offenbar tat ich ihr leid mit meiner ganzen Unbeholfenheit und meinen schüchternen Versuchen. So kam sie an diesem Tag zu mir her, ich stand vor dem Spiegel, den die Mädchen an der Wand aufgehängt hatten, sie nahm mein Haar und hielt es hoch.
»Mit hochgestecktem Haar siehst du besser aus, findest du nicht auch?«
Ich sah sie aus dem Spiegel an, konnte kein Wort herausbringen und nickte zustimmend mit dem Kopf. Da nahm sie mich bei der Hand, führte mich zu einem der freien Klos und sagte zu mir: »Du und ich, wir müssen uns unterhalten.«
Kaum waren wir drin, setzte sie sich auf die Kloschüssel und schlug die Beine übereinander, dann griff sie zu einer Zigarette, zündete sie an und machte einen tiefen Seufzer, während ihr Mund die Form eines tiefroten, bebenden Herzens annahm. Sie klimperte ein bißchen mit den Wimpern, hielt die freie Hand reglos auf halber Höhe vor sich ausgestreckt, als hielte sie einen Lampenschirm, sah mir fest in die Augen und sagte: »Es ist nicht schwer, man braucht nur ein bißchen guten Willen, wenn du magst, kann ich es dir beibringen.«
Ich sah sie bewundernd und überrascht an, fest überzeugt, daß ich es nie soweit bringen würde wie sie, niemals, aber daß ich es mit aller Kraft versuchen würde.
Von diesem Tag an wurden Angelina und ich praktisch unzertrennlich. Sie behandelte mich wie eine Eingeborene, die es zu zivilisieren galt, aber das war kein zu hoher Preis. Sie war es, die mich zum ersten Mal schminkte, die ausprobierte, welcher Puder zu meiner Haut, welcher Lidschatten zu meinen Augen paßte. Sie wurde fast nie ärgerlich, versuchte immer, die Ruhe zu bewahren, auch wenn ich ständig zappelte, die Augen öffnete und schloß und mir den Lippenstift mit Erdbeergeschmack ableckte. Aber auch wenn sie ärgerlich wurde, behielt sie immer eine gewisse Fassung: Sie schrie nicht, regte sich nicht auf und war nie vulgär, höchstens sagte sie zu mir: »Schwachkopf.« Sie war liebevoll und voller Aufmerksamkeit, nichts entging ihr, jede Einzelheit war unverzichtbar.
Sie gab mir ihre Stöckelschuhe zu probieren und zeigte mir, wie ich gehen mußte, aber für mich war es eine Tortur, weil sie 37 trug und ich 39, beim Gehen sah es deshalb aus, als hinkte ich auf einem Bein, und ich mußte mich an den Wänden anlehnen. Sie selbst steckte mir Kleenextücher in den Büstenhalter, die ich aus der Aussteuertruhe geschmuggelt hatte, und sagte mir, wie ich mich verhalten mußte: »Denk dran, daß die Jungen, bevor sie dir ins Gesicht sehen, dahin sehen.«
Sie lehrte mich auch, wie man atmet, und ich hatte nicht geglaubt, daß das so schwierig sei. Und dann, wie man spricht, dreinschaut, zuhört, wie man Gleichgültigkeit heuchelt, lacht, lächelt, wie man ernst ist, trinkt, ißt, sich hinsetzt und aufsteht, wie man das Haar hochsteckt, wie man es wieder aufmacht. All das garniert mit vielen kleinen, sehr nützlichen Anmerkungen.
»Wenn du mit einem Jungen sprichst, mußt du ihm immer in die Augen schauen, und wenn du zuhörst, schau ihm auf den Mund und laß die Lippen leicht offen.«
»Wenn dich jemand interessiert, darfst du es ihn nie offen merken lassen: Schmeichle ihm, zieh ihn an und spiele dann die Gleichgültige.«
Sie war ein wandelndes Handbuch: Für jede Situation hatte sie ihre Anweisungen parat, an ihr war nichts natürlich. Ich folgte sklavisch ihren Lehren, ohne ihnen etwas von mir hinzuzufügen, ich wirkte wie ihre lebende Fotokopie, aber die Jungen interessierte das offenbar nicht so sehr, als sie mir schon kurze Zeit später hinterherliefen und gepfefferte Bemerkungen auch über mich machten.
Angelina betrachtete mich als ihre Lieblingsschülerin, nahm mich immer mit und lud sogar auch mich zu ihren berühmten Festen ein. Sie hatte mich nicht besonders gern, das habe ich nie gedacht; und im übrigen lag mir auch nichts daran, von ihr geliebt zu werden. Ich war von ihr fasziniert, wie ein Kind von einem Erwachsenen fasziniert sein kann. Sie war ein Idol, jemand, der immer wußte, wie man sich verhalten mußte, die lebte, wie ich hätte leben wollen. Aber ich war darauf nicht neidisch, denn sie lachte nie. Oder, besser gesagt, sie lachte nie spontan, und jemand, der nie lacht, kann nicht
Weitere Kostenlose Bücher