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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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drängten aus den Hütten und umringten sie, lachten, husteten und spuckten auf die Straße. Hier und da erhaschte sie einen Farbtupfer, ein Halstuch oder einen Schal. Sie war müde und hungrig, und ihr wurde übel von dem Geruch. Es gab keine Männer, aber die Frauen waren groß und knochig, mit sich gleichenden ausgehöhlten Gesichtern und sehnigen, kraftvollen Gliedern. Einige von ihnen wiesen Mißbildungen auf: drei Brüste, sieben Finger, die zwei zusätzlichen mit gummiartiger Haut umsponnen.
    Zwei von ihnen stritten sich lautstark um ein Stück zusammengeknotetes Nylonseil.
    Sie schlugen sie, und diejenigen, die sich nicht beteiligten, drängten nach vorn, um besser sehen zu können. Spannung lag in der Luft. Kurz bevor das Kind begann, sich zu regen, sah Morag, wie eine von ihnen zitternd und um sich schlagend zu Boden fiel.
    »Oh, oh, oh«, stöhnte sie.
    Es dauerte eine Weile, bis das Seil die Haut auf ihrem Rücken aufgerissen hatte, aber zu diesem Zeitpunkt verspürte sie einen trägen Schmerz im Bauch, Blut lief an ihren Schenkeln herunter, und sie lag auf der Straße, biß in den Asphaltboden und schrie. Um sie herum wurde es grau.
    Sie atmete langsam und vorsichtig und wartete, daß das Bluten aufhörte. Verglichen mit dem ersten Mal hatte sie es leicht gehabt. Alle paar Minuten versuchte sie, dem Baby eine Reaktion zu entlocken. Als sie stärker war, zog sie sich auf einen Ellbogen hoch und sah an ihrem Körper entlang zu ihm hinunter. Das Bewußtsein schwand ihr wieder. Das Kind, das sie im Ginster entdeckte hatte, kam, um sie zu betrachten. Es blieb eine halbe Stunde – und sie war erleichtert über seine Gesellschaft. Es ging plötzlich davon, wie ein Tier, das das Interesse verliert. Sie begann zu zittern. Sie schrie, aber das ganze Dorf sah verlassen aus, die Frauen waren fort; nichts bewegte sich hinter ihren Hüttentüren, oder wenn sich etwas bewegte, dann sehr leise. Ein Wind kam auf und wehte ihr das Haar übers Gesicht. Jemand antwortete ihr.
    Ein Mann kam aus der nächstgelegenen Hütte, seine Bewegungen waren sprunghaft, hüpfend und hinkend. Er trug leuchtendblaue Samthosen, ein weißes Hemd mit Spitzenrüschen und eine flaschengrüne Jacke, die in spiralförmigen Mustern mit Münzen besetzt war. Er hatte schwere goldene Ringe an den Fingern, und sein schmales, langes, sorgenvolles Gesicht war vollkommen frei von Krebsgeschwüren, weiß und glatt. Sein schulterlanges schwarzes Haar war mit einem Brokatband zusammengehalten. Er hatte einen strähnigen, kurzen Bart. Seine Füße waren nackt, aber sauber, und um seinen wundgeriebenen, geschwollenen linken Knöchel war eine fünfzehn Meter lange glänzende Kette befestigt, die ihn wie eine Nabelschnur mit dem Türpfosten der Hütte verband. Sie klirrte, als er herantrat. Er lief hastig und verstohlen und blieb alle paar Schritte stehen, um die leere Straße entlang zu spähen, wobei er den Fenstern der Häuser besondere Aufmerksamkeit schenkte. Er trug einen Eimer, aus dem gleichmäßig Wasser schwappte und seine wunderschönen Hosen durchnäßte. Er hielt ein Bündel Kleider an seine Brust gedrückt. Die Kette brachte ihn fünf Fuß vor ihr zum Stehen.
    »Scheiße«, sagte er kläglich. »Oh, verdammt und verflucht …« Er setzte sich und verschüttete noch mehr Wasser.
    »Du mußt zu mir kommen«, sagte er.
    Das Wasser war warm. Er hatte Salz hineingetan, und es schmerzte auf ihrem Rücken. Er löste sie von dem Kind und kroch dann einige Meter beiseite, um sich zu übergeben. Er drängte sie, etwas von der Nahrung zu sich zu nehmen, die in dem Bündel eingewickelt war. Schließlich zog er ihr die blutigen Fetzen ihrer Kleidung vom Leib und bekleidete sie mit einer Arbeitshose, einem verblichenen, karierten Hemd und einer Lederjacke mit schwerem Fellrand. Während dieses Vorgangs wuchs seine Aufregung, er blickte um sich und zitterte nervös, wenn der Wind über den Dächern Lärm machte. Tiefe Furchen zerteilten sein Gesicht; seine Mundwinkel waren heruntergezogen; er murmelte unbehaglich vor sich hin.
    Auf der anderen Straßenseite bewegte sich ein Vorhang.
    »Oh, Scheiße!« Er schnappte nach Luft. Er flog am ganzen Körper, wandte sich ab und hastete mit langen Sprüngen davon. Seine Kette rasselte, als er sie hinter sich herzog.
    Ein wütendes Kreischen erhob sich über dem Klagen des Windes. Augenblicklich war die Straße voller Frauen. Morag begann, sich wie ein Krebs auf allen vieren zu entfernen. Sie ließ das tote Kind zurück

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