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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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und hielt auf eine Straße zu, die ins offene Land führte. Schmerz brannte von ihren Schulterblättern bis in die Leisten. Aber die Frauen beachteten sie nicht. Sie drängten sich um den angeketteten Mann, ihre Arme hoben und senkten sich in Windeseile. Er heulte.
     
    *
     
    Die Sache mit dem Baby brachte sie aus der Fassung: Nach zehn Monaten hatte sie sich gewünscht, es ein wenig besser kennenzulernen. Sie hörte auf zu bluten. Sie mußte das Hemd einige Male ausziehen, wenn es an ihrem Rücken festklebte. Es wurde steif, aber das verschlimmerte ihr Unbehagen nicht. Der Schmerz hielt eine Woche lang – in dieser Zeit mochte sie sich selbst nicht leiden, weil sie sich häufig übergeben mußte – aber danach schien es besser zu werden.
    Sie fand wieder zur Autobahn zurück, folgte ihr eine kurze Strecke, wobei sie sich instinktiv nordwärts hielt, und blieb dann zwei Tage lang in einem verlassenen Auto, lauschte dem Wind und rührte sich nicht viel.
    Auf der Rückbank des Autos fand sie ein Buch mit dem Titel Wahre Liebesgeschichten. Der größte Teil davon war ein weicher, matschiger Klumpen, auf dem Berge von gelbem und blauem Schimmel wuchsen, aber die letzte Seite war unversehrt:
     

     
    Wahre Liebe gefiel ihr. Sie las die Worte mühsam und lernte sie dann auswendig. Des Nachts sprach sie sie leise vor sich hin und stellte sich dabei die Liebenden vor.
    Gegen Mittag des dritten Tages machte sie sich wieder auf den Weg und kehrte der Autobahn den Rücken, als die Pfeiler Traumfrauen mit stählernen Schleiern zu gleichen begannen, die sagten: Wenn du das Brot nicht gestohlen hättest, dann hättest du dein Kind noch.
     
    *
     
    Sie beobachtete vom unbequemen Inneren eines Weißdorndickichts aus, wie die drei Männer sich in dem roten Auto von der Hütte entfernten, stand dann auf dem Zementvorsprung der versandeten Schleuse, nahm mit gerümpfter Nase den Geruch auf und fragte sich, ob jemand zurückgeblieben war. Sie war wieder straff und fast jugendlich – eine Nymphe in Jeans, ein wenig verwahrlost, einen Diebstahl im Sinn, mit windverzaustem, schmutzigblondem Haar. Nachdem sie zehn Minuten reglos verharrt hatte, wurde ihr unangenehm schwindelig. Sie war müde und fror. Sie ging ruhig zu der Hütte hinauf und rüttelte, bereit, fortzulaufen, an der Tür. Aber sie ließ sich leicht öffnen, und der Raum war leer.
    Die Collage in keiner Beziehung zueinander stehender Gegenstände, die sich dem Auge bot, als die Tür aufflog, hatte etwas von einem Zaubergarten. Sie lief zwischen den Erinnerungsstücken herum, hauchte auf glasartige Polyesterflächen und beobachtete, wie sich der Niederschlag auf dem verzerrten Bild formte, entzückt von den mannigfaltigen Spiegelungen und chromgelben Lichtpunkten. Der Gestütkalender fesselte sie, seine endlosen Listen bedeutungsloser Namen bekamen, allein durch ihre Beziehungslosigkeit mit Dingen und Seinsformen, die ihr bekannt waren, eine tiefe Nebenbedeutung. Sie blätterte das Buch beharrlich durch und verlor dabei jegliches Zeitgefühl; aber schließlich übte der offene Herd eine stärkere Anziehungskraft aus: Sie legte das Buch vorsichtig fort und setzte sich nieder. Die Hitze straffte ihr Gesicht. Einschläfernde Wärme hielt sie von planloser Nahrungssuche ab.
    Es wurde offensichtlich, daß sie gehen sollte, daß hier nichts zu finden war als die Gefahr, daß die Männer zurückkehren und sie entdecken würden. Als sie einnickte, überkam sie für einen Moment ein Gefühl der Dringlichkeit, nur um von einem Bild der Wahren Liebe beiseite gefegt zu werden. Sie schlief zusammengerollt wie ein Kind auf dem harten Zementboden.
    Die riesige Kranichfliege mit rätselhaften Bernsteinaugen schwirrte durch ihre Träume, fallend und kreiselnd, als sie auf der Suche nach einem Ausweg umherirrte. Sie zirpte und brach sich die grotesk baumelnden Gliedmaßen an ihren Schädelwänden. Die leichte Berührung ihrer Flügel war unerträglich: Sie wälzte sich und trat in einem unerquicklichen Halbschlaf um sich. Dann verwandelte sich das hartnäckige Summen in das Geräusch eines sehr massiven Turbinenmotors, der das Metalldach wohlwollend erzittern ließ, als er bis zum Höhepunkt seiner Energiekurve aufheulte und dann wieder abfiel. Sie wandte das Gesicht träge zur Tür und rührte sich nicht. Es blieb nichts anderes zu tun.
    Der kleine alte Mann kam als erster herein. Er war aufgelöst, erhitzt unter der Schicht von Krebsgeschwüren, sein kahler, narbenbedeckter Schädel

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