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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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einheitlich und fest. Wieder dachte er an einen Panzer – diesmal nicht an einen Kettenpanzer, sondern an den Rückenschild eines Gürteltieres, den Chitinpanzer eines Insekts. Sein Mund war um eine lange, biegsame Zunge geöffnet, die leicht zitterte. Es hechelte, was darauf schließen ließ, daß die seltsame Haut möglicherweise nicht schwitzte. Die starre Haut bog sich an den Knien und Ellbogen, als es in der kleiner werdenden Hülle warmer Luft über dem Körper seiner Mutter langsam mit den Gliedern wedelte. Er deckte es zu, als es begann, in einem Nachgeburtssee des Schmerzes zu versinken, und es gelang ihm, der Mutter ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Er wandte sich zu Pauce um und versuchte, Worte zu formulieren, die genau die undeutlich erhaschte Erinnerung vermittelten, die wie ein kurzer Neonblitz am Rande seines Verstandes aufgezuckt war.
    »Ist es normal, Wendover?«
    »Normal? Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinaus wollen. Keiner von uns ist das noch. Was wir hier haben, ist etwas, das noch nie zuvor geschehen ist …«
    Pauce machte eine ungeduldige, nach unten gerichtete Bewegung mit der Hand. Bevor er sprechen konnte, schaltete sich Harper, dessen Züge von einer inneren Anspannung verzerrt waren, ein.
    »Aber es ist geschehen, Doktor! Fragen Sie ihn. Fragen Sie Pauce, was …« Er hielt inne, als Pauce zu ihm herumschnellte. Sein alter Körper bewegte sich mit unerwarteter geschmeidiger Anmut. Eine großkalibrige Automatikpistole war am Ende seines Armes wie eine stählerne Blume aufgeblüht.
    »Sei still«, sagte er ruhig.
    Er veränderte seine Stellung so, daß er Harper in Schach halten konnte, und wandte sich wieder zu Wendover um. »Ist es normal, Doktor?« wiederholte er.
    Wendover versuchte, die Pistole nicht zu beachten. »Genau genommen, nein«, gab er zu, »aber Sie hätten mich nicht gebraucht, um Ihnen das zu sagen. Sie haben Augen …«
    Die Spannung schien von Pauce abzufallen. Die Maske verriet nichts, aber die Angespanntheit wich aus seinen Gliedern. Dann richtete er die Pistole auf Wendover und sagte: »Gehen Sie aus dem Weg, Doktor. Ich kann keine Abweichung von solchem Ausmaß dulden. Gehen Sie aus dem Weg.«
    »Sie wollten meine Meinung hören, Pauce. Diese Haut ist ein Strahlenschild. Es gingen Gerüchte um. Ich hätte nicht geglaubt, daß es möglich ist.«
    »Reden Sie keinen Unsinn. Gehen Sie aus dem Weg, Wendover.«
    An dieser Stelle lieferte sich Wendover aus. Bis dahin hatte er dem Niedergang der Welt mit passiver Billigung zugesehen, hatte Zuflucht in Träumen gesucht, weil er die Gegenwart nicht ertragen konnte. Seine Erinnerungen waren nicht Zeichen der Senilität, sondern der Flucht. Weil das Kind jemandes Zukunft vertrat, wurde er in die Gegenwart hineingezogen:
    Er schoß auf Pauce, ohne die Pistole aus der Tasche seines Regenmantels zu ziehen.
    Er sah, wie die Kugel aufschlug, in den Oberschenkelmuskel des Mannes fetzte und ihn gegen die Wand zurückschlug. Pauce stöhnte. Sein Revolver beschrieb einen schimmernden Bogen und fiel Wendover vor die Füße. Die Frau auf dem Bett begann zu schreien. Kurze, rasende Schreie in dem Vakuum, das auf das Aufbrüllen des Schusses folgte. Blut war auf dem Goldlame, als Pauce langsam an der Wand zu Boden glitt; und Blut auch auf dem Metall hinter ihm, vom Austrittsloch der Kugel verspritzt. Die Menge draußen murmelte mit einer einzigen befriedigten Stimme – sie waren gekommen, um eine Hinrichtung zu hören. Pauce versuchte, etwas zu sagen, aber er konnte nicht aufhören zu stöhnen. Korditrauch brannte Wendover in den Augen, als er vom durchlöcherten Stoff seines Mantels hochzüngelte. Er wollte sich übergeben.
    Harper taumelte vor.
    Er schob sein Gesicht, sich auflösend und vor Erregung zersplittert, dicht an Wendovers. So dicht an ihn gedrängt und von Zuckungen des Wahnsinns entstellt, war er ein ungeheurer Guignol.
    »Was, zum Teufel, glauben Sie, daß Sie tun, Wendover? Was, zum Teufel …«
    Wendover schob ihn von sich.
    »Ist es nicht das, was du wolltest?« rief er, froh, daß er sich Luft machen konnte. »Ist das nicht der Grund, warum du mich hierher gebracht hast? Der Falsche König abgesetzt? Die Revolution? Etwas, wozu du nicht den Mut hattest?«
    Harpers Gesicht hörte auf zu zucken. Er zitterte. Er hörte Wendover mit ungläubigem Ausdruck zu. Dann sagte er: »Oh Gott. Nein, Doktor. Das war es nicht. Das war es auf keinen Fall.« Sein Gesicht drohte wieder zu zerfallen. Er schien seine nächsten

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