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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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herüber. Als er feststellte, daß der Zwerg noch immer bewußtlos war, brummte er mißmutig: »Dreh ihn um oder tu irgend etwas«, und fuhr fort, auf und ab zu gehen. Morag begann wieder zu weinen. Es erzürnte ihn so, daß er glaubte, er könne es nicht länger ertragen.
    Ihm war mehr an Wendover gelegen, der ihm seltsamerweise in schlechterer Verfassung zu sein schien als der Zwerg. Eine Untersuchung seines Kopfes ergab eine geringfügige Fleischwunde und einige Pulververbrennungen; und doch lag er leblos auf einem Haufen politischer Zeitschriften ausgestreckt, die von einem zerbrochenen Regal gefallen waren, und sein Atem ging schwer und unregelmäßig. Seine Haut fühlte sich heiß und feucht an, sie spannte über den Knochen wie imprägnierte Seide. Er sah aus wie ein Leichnam. Harper beobachtete ihn ängstlich und hoffte auf ein Lebenszeichen. Er hatte eine Aufmunterung nötig.
    Arm stöhnte und drehte sich um.
    »Gib ihm Wasser«, sagte Harper zu dem Mädchen, ohne den Blick von den geschwollenen Drüsen und dem knöchernen Gesicht des Arztes zu wenden.
    Sie waren seit sieben oder acht Stunden in der Bibliothek. Es war nicht mehr lange bis zur Morgendämmerung. Von den Lichtstreifen, die ordentlich an der hohen Decke aufgereiht waren, waren noch zwei in Betrieb. Die versagende autonome Energieversorgung des Gebäudes – die Solarzellen auf dem Dach waren von jahrzehntelangem Wind angeschlagen und zerfressen – ließ sie flimmern und surren. Ihr Licht verlor sich in der riesigen, kreisförmigen Weite des Raumes und fiel düster auf die Rücken von fünfzigtausend Büchern. Harper erschauerte bei dem Gedanken an die vergangenen Technologien und die Bürde des Wissens, die um ihn herum gelagert waren. Als die Türen verschlossen worden waren, hatten er und Morag die stumme Übereinkunft getroffen, in der Nähe des Eingangs zu bleiben und sich nicht weiter in die Schatten des wartenden Informationszentrums hineinzubegeben.
    Arm würgte und sagte: »Ich hätte nichts tun können, weißt du. Sie hätten mich gefunden!« Als sein Blick auf Harper fiel, der seinen langen Marsch wieder aufgenommen hatte, zuckte er zusammen. »Block, Kleiner?« flüsterte er.
    Harper nahm Morag die Blechtasse ab und schüttete dem Zwerg das restliche Wasser ins Gesicht.
    »Wach auf, Arm. Wir stecken in der Klemme.«
    Nachdem sie sie eingeschlossen hatten, waren ihre Häscher singend und jubelnd durch die fallopischen Schächte des Gebäudes davongerannt. Später konnten sie aus einem entfernten Raum das Stampfen von Füßen und das hohle Pfeifen von einfachen Blasinstrumenten hören. Die ganze Nacht hindurch hatten ihnen die Wilden immer wieder Besuche abgestattet. Keiner hatte jedoch die Bibliothek betreten; sie standen in kleinen Grüppchen herum – sprachen in abgehackten Flüstertönen miteinander und schlugen gegen die Türen – und liefen dann fort, wie Kinder, die einen angeketteten Hund necken. Harper verstand das alles nicht. Das Gebäude war jetzt schon seit geraumer Zeit still.
    Er sah zu, wie der Zwerg sich mühsam aufraffte, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen.
    »Du hattest ein paar ziemlich merkwürdige Träume«, sagte er.
    Arm runzelte die Stirn. Er blickte auf Wendover herunter.
    »Habe ich etwas gesagt?«
    »Nein, nicht daß ich wüßte.«
    Der Zwerg schien erleichtert. Er fühlte Wendovers Puls, strich mit den Fingern über seine Kopfwunde. Er kratzte an dem getrockneten Blut unter seiner Nase.
    »Das ist eine böse Sache«, sagte er. »Der Kratzer ist halb so schlimm. Sein Zustand hat irgendeine andere Ursache. Hat jemand seine Tasche gerettet?«
    Wendovers Seesack lag, umgeben von einem Stapel Bücher, neben dem schlafenden Kind auf dem Lesetisch. Die Bücher hatte Morag im Laufe der Nacht unter Weinkrämpfen zusammengetragen. Sie war zaghaft zum nächsten Regal gegangen und hatte sich den Anschein gegeben, als untersuche sie die Titel ganz genau. Auf Harpers Drängen hatte sie zugegeben, daß sie kaum lesen konnte, weigerte sich aber, zu erklären, warum sie über den Illustrierten brütete oder was sie an den leuchtend bunten geographischen Zeitschriften fesselte.
    Das brachte ihn mehr aus der Fassung als das Schluchzen, denn obwohl er ihr wirklich gerne geholfen hätte, zu finden, was immer es war, das sie suchte, wollte er doch seine Fertigkeit im Lesen unter Beweis stellen.
    Sie nahm die Tasche und hielt sich damit auf, einige der aufreizenderen Magazine zu berühren und das Kind fester in seine

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