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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Und umgekehrt werdet Ihr sicherlich unter der gleichen Notsituation leiden.«
    »Gut«, erwiderte ich, »ich werde darüber mit dem Heiligen Vater sprechen. Sollte es mir nicht gelingen, sein Interesse zu
     wecken, lasse ich von einem Sekretär ein Schriftstück aufsetzen. Dann bleibt wenigstens ein schriftlicher und datierter Nachweis
     über deine Demarche. So kann sie unter dem nächsten Pontifikat mit größerem Nachdruck erneuert werden.«
    Einige Tage später fand ich den Heiligen Vater in einem seiner üblichen Anfälle von Melancholie, und als ich ihn nach dem
     Grund zu fragen wagte, sagte er düster:
    »Letzte Nacht hat der Blitz in die Engelsburg eingeschlagen, in die Standarte, ganz hoch oben. Das ist ein schlechtes Zeichen,
     lieber Freund, ein sehr schlechtes Zeichen …«
    Mehr wollte er dazu nicht sagen, doch als er sich in seine Gemächer zurückgezogen hatte, flüsterte mir der Erste Kammerherr,
     der meine Verdutztheit bemerkte, zu:
    »Als gebürtiger Venezianer kennen Eure Eminenz nicht den Aberglauben des einfachen römischen Volkes: trifft der Blitz die
     Standarte der Engelsburg, wird der Papst noch vor Jahresende sterben.«
    »Und Seine Heiligkeit nimmt diesen Aberglauben für bare Münze?«
    »Es scheint so. Und das ist um so verwunderlicher, als der Blitz schon zweimal eingeschlagen hat, der Heilige Vater sich aber
     jetzt zum ersten Mal betroffen zeigt.«
    Einige Zeit danach traf ich auf einer Treppe des Vatikans zufällig einen Prälaten, dessen Name nicht genannt werden soll;
     er lächelte und blieb stehen. Ich erwiderte sein Lächeln und blieb ebenfalls stehen. Es sei hier angemerkt, daß ein Treppenabsatz
     mit Sicherheit im ganzen Vatikan der beste Ort für einen heimlichen Gedankenaustausch ist. Denn wenn man sich geschickt genug
     plaziert, hat man die Heraufkommenden ebenso im Blick wie die Herabsteigenden und sieht sie in beiden Richtungen |340| schon von weitem kommen, so daß sie einen nicht im Gespräch überraschen können.
    »Lieber Freund«, sagte er, »der Ihr den Heiligen Vater tagtäglich seht, habt Ihr keine Veränderung an ihm festgestellt?«
    Dieser Satz und das gleichzeitige Stirnrunzeln waren in Wirklichkeit das Angebot zu einem Tauschgeschäft: »Verrate mir, was
     du weißt, und ich sage dir, was ich erfahren habe.« Ich beschloß, auf das Angebot einzugehen, zumal der besagte Prälat im
     allgemeinen gut informiert war. Allerdings verschwieg ich die Bemerkung des Papstes über die Standarte auf der Engelsburg,
     die nur mich persönlich betraf, weil er sie mir gegenüber geäußert hatte. Dagegen berichtete ich von dem wesentlich harmloseren
     Eindruck, den Armando Veniero aus seiner verkürzten Audienz gewonnen hatte.
    Der Prälat lauschte fast gierig und sagte dann mit feinem Lächeln:
    »Also ist es wahr. Ohne schon zu behaupten, es gehe mit ihm abwärts, könnte man in Abwandlung des berühmten Wortes sagen,
     ›der gute Homer schlummert‹. Dabei sieht er immer noch so gut aus. Er ißt gut, er schläft gut. 1 Es muß wohl so sein, daß sich der Kräfteverfall in seinem Inneren vollzieht. Ein untrügliches Zeichen: er scheint nicht mehr so darauf bedacht
     zu sein, sich in der Würde seines Amtes zu behaupten. Wißt Ihr, daß er sich an manchen Abenden in einer Sänfte zu seinem Sohn
     Giacomo tragen läßt und den Festen dieses Bengels beiwohnt? Oh, da passiert nichts wirklich Anstößiges, abgesehen vielleicht
     von ein paar Tänzen der nur spärlich bekleideten maurischen Sklavinnen. Aber wenn sich das herumspräche, hätte es verheerende
     Auswirkungen!«
    Nachdem der Prälat auf solche Art das Seinige getan hatte, damit »sich das herumspräche«, verließ er mich mit einem Augenzwinkern,
     das seine bekümmerten Seufzer Lügen strafte.
    Um die Wahrheit zu sagen: ich wurde dem Papst immer unentbehrlicher. Er schickte zu jeder Tageszeit nach mir und sogar nachts,
     wenn er an Schlaflosigkeit litt. Und sowie er meiner ansichtig wurde, hieß es: »Cherubi, Uns bedrücken düstere Gedanken, heitert
     Uns auf!«
    Das war nicht sehr schwer. Wenn der Papst eine Geschichte |341| mochte, konnte man sie ihm hundertmal erzählen, und er fand daran immer wieder das gleiche Vergnügen. Man mußte allerdings
     stets die gleichen Wörter verwenden. Bisweilen verlangte er dann sogar, sie zu wiederholen.
    »Cherubi, beschreibt Uns eine Mahlzeit bei Montalto!«
    »Gut, Allerheiligster Vater. Zunächst einmal: das Speisezimmer war eisekalt, da Seine Eminenz nicht wollte,

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