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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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durchblicken, wenn es einem nützlich scheint. Ich gehe anders
     an die Dinge heran. Da ich in Venedig geboren bin, glaube ich, den Charakter seiner Einwohner zu kennen, und halte mich für
     prädestiniert, die Kirche in der Serenissima zu vertreten. Warum soll ich meine Ambitionen verschweigen, wenn sie doch legitim
     sind? Ist es nicht sogar besser, so früh wie möglich zu erklären, auf welchen Posten man prätendiert, sei es auch nur, um
     den weniger entschlußfreudigen Bewerbern den Wind aus den Segeln zu nehmen?
    Will man den bösen Zungen Glauben schenken, bin ich dank meiner Offenheit derjenige Prälat im Vatikan, der die meisten Böcke
     schießt; zugleich sollen mir meine Tölpeleien den größten Vorteil gebracht haben. Diese Legende scheint mir widersprüchlich.
     Wenn meine Ungeschicklichkeiten für meine Karriere so nützlich gewesen sind, waren sie dann wirklich so dumm?
    Nach dem Aufstand wurde ich zweifellos der Mann, auf dessen Ratschläge der Papst am meisten hörte. Manch einer fand meinen
     Einfluß exzessiv. Er war tatsächlich groß, doch wie kann man ihn exzessiv nennen, wo er doch immer mit Mäßigung ausgeübt wurde?
    Seit jenem schrecklichen Tag, da der Papst um Leben und Thron fürchten mußte, strebte er danach, unbesiegbar zu werden, indem
     er Schweizer rekrutierte und Kanonen kaufte. Aber je stärker er militärisch wurde, um so schwächer, unentschiedener, haltloser
     wurde sein Charakter. Er hatte sich niemals großer Tatkraft rühmen können, und das bißchen, was er besaß, schien in den Wirren
     zerbrochen zu sein. Gleichzeitig überließ er sich seinem Groll.
    Sowie sein Thron sich wieder gefestigt hatte, wollte er den Fürsten Orsini exkommunizieren und dessen Ehe durch ein
precetto
auflösen. Ich war gegen beide Maßnahmen, weil sie |338| zu sehr nach Vergeltung rochen. Ich sagte es dem Heiligen Vater, und er war zunächst darüber verärgert. Nachdem ich ihm klargemacht
     hatte, daß er den Fürsten Orsini nicht exkommunizieren könne, ohne mit dem gesamten römischen Adel genauso zu verfahren –
     eine unmögliche und in ihrer Absurdität fast komische Maßnahme –, begnügte er sich mit dem
precetto
, von dem er nicht mehr ablassen wollte.
    Als sein
precetto
verkündet wurde, empfand der Papst lebhafte Befriedigung. Ebensosehr freute er sich, als er – nicht ohne Grund – den Grafen
     Oppedo verbannte und als er unter dem Vorwand, leidend zu sein, es ablehnte, den Fürsten Orsini im Vatikan zu empfangen. Danach
     fiel er in seine Apathie zurück und ließ sich treiben, als hätte er überhaupt kein Ziel mehr im Leben.
    Eines Tages traf ich den Botschafter Venedigs, Armando Veniero, wie er mit ziemlich besorgtem Gesicht von einer Audienz bei
     Gregor XIII. kam; ich nahm ihn freundschaftlich am Arm und fragte ihn nach dem Grund seiner Besorgnis.
    »Ich fürchte, daß der Papst Venedig nicht mehr so viel Wohlwollen entgegenbringt wie früher«, sagte er. »Ich hatte ihn darum
     ersucht, ein Problem vortragen zu dürfen, das die Serenissima stark beschäftigt. Er hat mich für fünf Minuten empfangen und
     mir kaum zugehört. Man hätte wirklich meinen können, er interessiere sich überhaupt nicht für diese Frage.«
    »Armando, beruhige dich!« flüsterte ich ihm ins Ohr, wobei ich ihn in eine Fensternische zog. »Der Papst ist an allem desinteressiert.
     Er kürzt die Audienzen ab. Er zeigt sich zerstreut. Nicht einmal die wichtigsten Angelegenheiten des Staates oder der Christenheit
     vermögen seine Aufmerksamkeit zu fesseln.«
    »Ah, das ist es also!« rief Armando. »Außerdem habe ich bemerkt, daß er zur Larmoyanz neigt.«
    »Gewiß, er hatte schon immer die Fähigkeit zu weinen, aber jetzt kommen ihm die Tränen ungewollt und grundlos.«
    »Das ist betrüblich«, sagte Armando, ohne allerdings einen sehr betrübten Eindruck auf mich zu machen. »Ärgerlich ist nur«,
     fuhr er fort, »daß ich nicht weiß, was ich der Serenissima antworten soll.«
    »Worum handelt es sich denn?« fragte ich. »Du weißt, wie sehr ich der Serenissima zugetan bin. Und wie sehr ich hoffe, daß
     sie mir eines Tages meine Zuneigung erwidert …«
    |339| Hier lächelte Armando, der meine Ambitionen genau kannte, mit einer Miene, die sowohl Freundschaft als auch diplomatische
     Zurückhaltung ausdrückte.
    »Venedig möchte mit dem Papst einen Auslieferungsvertrag abschließen«, fuhr er fort. »Die Stadt ist überfüllt mit Römern,
     die vor Euren strengen Gesetzen zu uns fliehen.

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