Idol
Allerheiligster Vater.«
»Dann bittet den Verleger oder seine Nachkommen, einen Neudruck herauszubringen. Wenn die Serenissima es Euch erlaubt, sehen
wir keinen Hinderungsgrund. Nur Ignoranten behaupten, es gebe im Talmud Passagen gegen die christliche Lehre. Wir berufen
uns auf die Meinung des Gelehrten Reuchlin, der, weil er Hebräisch und Aramäisch beherrscht, die beiden Fassungen des Talmud
sehr aufmerksam gelesen und nie irgend etwas darin entdeckt hat, das den christlichen Glauben verletzen könnte.«
»Wollte der Himmel, Allerheiligster Vater, daß Seine Eminenz Kardinal Santa Severina Eure Sicht der Dinge teilen möge!« wagte
ich daraufhin zu sagen.
»Unwichtig, ob er sie teilt oder nicht«, sagte Sixtus V. und tauschte ein Lächeln mit dem stummen Monsignore. »Wir haben ihm
diese Sache aus den Händen genommen. Und um zu verhindern, daß der Großinquisitor sich damit befaßt, haben wir den Talmud
der Kongregation für den Index zur Prüfung überantwortet. Will heißen, wir haben ihn Blinden zu lesen gegeben, denn kein Mitglied
der Kongregation kann Hebräisch …«
Diese Worte begeisterten mich in zweifacher Hinsicht: zunächst, weil sie meine Befürchtungen ob einer neuen Verfolgung zerstreuten,
und zweitens, weil mir der Papst mit seiner List – »das Buch Blinden zu lesen zu geben« – an eine bestimmte biblische Tradition
anzuknüpfen schien. Von nun an setzte ich die größten Hoffnungen in diesen Herrscher, der unter seinem rauhen Äußeren so viel
Geist und so viel Menschlichkeit verbarg – und Wissen, sollte ich hinzufügen, denn im Unterschied zu Santa Severina hatte
Sixtus V. den Christen Reuchlin gelesen und fiel deshalb nicht auf die von den Böswilligen erfundenen und von den Unwissenden
kolportierten Lügen über den Talmud herein.
Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht: kurze Zeit später verkündete der Papst seine Bulle »Christiana Pietas«, die den
Status der jüdischen Gemeinde im Kirchenstaat in mehrfacher Hinsicht zu unserem Vorteil veränderte. Das Wohnrecht wurde uns
für alle Städte, nicht nur für Rom und Ancona, zugestanden. Noch erstaunlicher war, daß uns die Bulle die Freiheit der Religionsausübung |404| zuerkannte und uns die Möglichkeit gab, Synagogen zu bauen und neue Friedhöfe anzulegen. Unsere Prozesse und Streitsachen
wurden nicht mehr einem Sondergerichtshof, sondern normalen Gerichten übertragen. Zu unserer großen Erleichterung wurde es
uns erlassen, auf Reisen oder Messen und Märkten den gelben Kaftan tragen zu müssen, wo er uns zur Zielscheibe der übelsten
und unfreundlichsten Behandlung seitens der Kunden und unserer Konkurrenten machte. Und schließlich erhielten die jüdischen
Ärzte, die die Lehre von Galenus und Hippokrates nicht nur durch die traditionelle jüdische, sondern auch durch die arabische
Medizin aus Andalusien bereichert hatten, die seit langem erbetene, bisher aber stets verweigerte Genehmigung, christliche
Kranke zu behandeln.
Diese Bulle wurde durch ein
bando
1 ergänzt, von Staatssekretär Rusticucci verfaßt, aber von Sixtus V. inspiriert, das es den Untertanen des Papstes unter Androhung von Geldstrafen verbot,
uns zu beschimpfen, zu demütigen, zu schlagen oder zu bespucken. Zwei weitere Bestimmungen dieses bando nahmen eine große
Last von mir: den Hausbesitzern wurde untersagt, den Mietzins zu verdoppeln, wenn sie an Juden vermieten, und den Fleischern,
uns anderes als das von uns verlangte Fleisch zu verkaufen. Wer das
bando
umgehen und uns weiter schikanieren wollte, wurde von uns beim Bargello angezeigt und sofort bestraft.
Da wir im Getto über alles unsere Witze machen, war es damals üblich, auf die Frage »Wie geht’s?« zu antworten: »Gut! Wie
du siehst, magert mein Hund ab.«
Wir waren sehr froh, daß die Zeit der schlimmen Heimsuchungen vorbei war, und die Honoratioren des Gettos versammelten sich
unter meinem Vorsitz, um zu überlegen, was wir diesem aufgeklärten Papst zum Zeichen unserer Dankbarkeit schenken könnten.
Da unser Volk für Erörterungen und Streitgespräche eine besondere Begabung hat, wurde leidenschaftlich palavert, aber nachdem
wir das Für und Wider lange abgewogen hatten, kamen wir zu dem Schluß, das einzige Geschenk, welches das Oberhaupt der Christen
von uns annehmen könnte, wäre ein reich verziertes Brustkreuz.
|405| Sobald diese Entscheidung – ohne mein Zutun! – gefallen war, erhielt ich den Auftrag, das Kreuz mit
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